Der Auftrag beweist, dass man Turners Seestücke sehr schätzte. »Boat's crew recovering an anchor«, das Bild welches er 1809 in der Royal Acamedy ausstellte, erwähnte ich bereits in Zusammenhang mit Pococks und Livesays Kooperation bei der Kopenhagen-Kampagne.
Zwar hat Turner den Titel geändert, die dänische Flagge unter dem Red Ensign verrät uns aber, zumindest bei einem der Schiffe, dass es sich um eine dänische Prise handelt.
Als Beispiel für Naturdarstellung beeindruckend, fällt etwas bei dieser ungezwungenen Komposition nicht sofort auf: so deutlich viel »Schiff« zeigt Turner gar nicht.
Bei einem anderen Bild aus dieser Zeit, ist diese Vermeidungsstrategie noch ausgeprägter.
»Der Zusammenfluss von Themse und Medway« stellt vor allem unter Beweis, wie gut Turner es versteht, Wasser und Wolken in eine lebendige Seeatmosphäre zu verwandeln - mit noch weniger Schiff und noch mehr Boot.
Bei der Schlacht von Trafalgar kann er sich der Darstellung der Victory nicht entziehen. Das Schiff mit den Menschen im Vordergrund abzudecken hätte merkwürdig ausgesehen, darüberhinaus hätte es erfordert, den Seeleuten noch portraithaftere Züge zu verleihen als sie schon haben. Auch wenn es gewiss nicht sein Ziel sein konnte, einer Sache, die er nicht beherrscht, noch mehr Gewicht zu verleihen, führt uns Turner in der Komposition einer Ölskizze zum Gemälde eben jene Herangehensweise vor.
Die Schlacht spielt sich im Hintergrund ab, während die Aufmerksamkeit den aufgeregten Seeleuten in den Booten bzw. auf den Wrackteilen gilt.
Zwar steht die Victory schon im Fokus der Schiffsansammlung, ist aber noch nicht das alles beherrschende Bildelement. Insgesamt erscheint die See bewegter - rechts sogar eine große Schaumkrone - der Vordergrund wirkt in der Anlage stimmig, ist aber aus falschem Impetus geschaffen, und der bändigende Einwand »Flaute« ist aus dem glattgemalten Gemälde herauszuhören. Dennoch lässt Turner trotzig den Wellenberg stehen und die Flaggen wehen.
Auf den ersten Blick sieht man in dieser Ölskizze die Gemäldevorlage. Betrachtet man sie genauer und zieht die beiden zuvor gezeigten Seestücke zum Vergleich heran, wird man auf ein weiteres Gestaltungsmittel Turners aufmerksam: eine Bildebene vor den Booten. Unmittelbar vor dem Betrachter schwimmt eine Boje, in diesem Fall ist es eine Flagge. Deutlich zu erkennen, ein Zinnenturm auf gekröntem Wappenschild und rotem Grund. Was Turner symbolisieren will, ist mir nicht klar, eine spanische Flagge wird es nicht sein, aber auf das Gemälde übertragen, wäre dieses Wappen in Augenhöhe des Betrachters der Bildeinstieg anstelle des toten Seemanns und Nelsons Wahlspruch.
Vielleicht versuchte er in diesem Entwurf intuitiv etwas Distanz zur Figurendarstellung zu schaffen. Direkt angewandt und detailliert ausgearbeitet, hätte das Gemälde allerdings einen anderen Charakter bekommen und wäre in die Nähe einer Gedenktafel gerückt.
Von der vernebelten Szene übernimmt Turner den fallenden Fockmast und den zerstörten Bugspriet ins Gemälde. Bewährte Vermeidungstechnik lässt die Santissima Trinidad hinter der Victory aufleben, aber im fertigen Gemälde hat sich dieser Bereich in einem so kleinen Teil festgemalt, dass man ihn nicht mehr automatisch als Schiffsheck identifiziert, und das Heck der Victory, direkt daneben, wirkt ähnlich klotzig. Zusammen mit der übertriebenen Objektgröße wird Sir Thomas Hardys Bemerkung verständlich, wenn er anstelle von Schiffen Häuserreihen mit Turners Formen assoziiert.
The Voyage of the Beagle: Darwin's Extraordinary Adventure Aboard FitzRoy's Famous Survey Ship, James Taylor, Bloomsbury Publishing, 05.11.2015 - 192 Seiten
Die Redoutable am rechten Bildrand liegt in der Ölskizze auf einem anderen Kurs; in Heckansicht wendet sie sich nach Steuerbord, und das, was später zur Bordwand des Schiffes mutiert, ist der abgeknickte Großmast. Mit dieser »Verdrehung der Tatsachen« schließt Turner die Lücke zwischen den Schiffen und bringt die Redoutable zum Sinken, während in der Skizze Raum für einen geisterhaften Schiffsplatzhalter bleibt.
Nachdem sich der Dunstschleier der Skizze im Gemälde gelichtet hat, ist nur noch ein Schiff übrig. Als unauffälliges Hintergrunddekor wird die Redoutable so unreal, dass man sie für den Hutschmuck einer Rockoko-Frisur ausgeben könnte. Den restlichen Schiffen ist es fast gelungen sich zu verstecken, als Turner das Licht anknipst. Was besonders in seinen Aquarellen und Skizzen so leicht und überzeugend wirkt, beim Santissima Trinidad genannten Teil wird meine Vorstellungskraft überstrapaziert.
Hier träfe ihn die Kritik gewiss härter als alles bisher Gefundene, denn etwas, das man für gewöhnlich überhaupt nicht mit Turners Seestücken verbindet, versammelt sich in diesem Bild in konzentrierter Form: Mühe.
1823 schrieb Turner John Christian Schetky an und bat ihn um einen Gefallen: „Für eine Skizze der Victory (z.Z. in Hayle Lake oder im Hafen von Portsmouth) in dreiviertel Bugansicht, rechts, links - egal, wäre ich Ihnen sehr verpflichtet”.
Britannia’s Palette: The Arts of Naval Victory, 1944, von Nicholas Tracy - Seite 300
Und sollte Schetky noch eine Skizze von HMS Neptune, sowie Einzelheiten zur Santissima Trinidad und der Redoutable mitzuteilen haben, für jeglichen Austausch sei er dankbar.
The Voyage of the Beagle: Darwin's Extraordinary Adventure Aboard FitzRoy's Famous Survey Ship, James Taylor, Bloomsbury Publishing, 05.11.2015 - 192 Seiten
Die Victory im Hafen von Portsmouth ist misslungen; Schetky weiß es und entschuldigt sich dafür ausdrücklich in einer Notiz am unteren Rand der Zeichnung. Demnach erscheint das Schiff viel zu lang, weil es sich während des Zeichnens drehte. Die Victory war offenbar soeben als Flaggschiff des Hafenadmirals in Portsmouth stationiert worden, ihre Erscheinung der Zeit angepasst - aber weshalb weiter spekulieren über irgendeinen Einfluss dieser Skizze auf Turners eigenwillige Darstellung? Sein Gemälde wurde im späten Mai 1824 im St. James Palace platziert…
»Turner« von James Hamilton, Random House Publishing Group, 12.03.2009 - 496 Seiten, Seite 264
und laut turnergallery.art-artist.co.uk noch im Mai fertiggestellt; elf Tage für die Nachbearbeitung vor Ort gerechnet, wäre spätestens der 20. Mai Tag der Hängung. Schetky datiert seine Skizze genau auf den 26. August 1824. Sollte also Schetky auf Turners Anfrage Zeichnungen geliefert haben, diese war nicht dabei.
Was sich Turner von seiner Recherche-Anfrage überhaupt versprach, ist mir nicht klar; er war viel unterwegs, wie die ungeheure Zahl seiner Skizzen und Aquarelle beweist, und wusste sehr gut wie ein Linienschiff um 1823 aussah. Erwartete er in der Schützenhilfe vom Drawing Master des Royal Naval College eine Art Sachverständigen-Gutachten vorweisen zu können? Vielleicht verrät sich hier seine Nervosität bei diesem anfangs wichtigen, später lästigen und schließlich geringgeschätzten, Auftrag.
Echte Spuren. Mindestens in dreien sehe ich Quellverweise.
Bei den ersten beiden bin ich mir nicht sicher, aber nichts sonst gibt einen Hinweis darauf als De Loutherbourgs Gemälde. Das, was bei Turners Victory vom Galion nach unten hinter den Ankerklüsen vorbeiführt, muss ein Abflussrohr sein. Zu Ungewöhnlich, um nicht als direkte Anleihe der Queen Charlotte aus dem Bild gegenüber aufzufallen.
Die französische Nationalflagge im Großtopp der Montagne hatte ich erwähnt, sie galt von 1790 bis 1794 und wurde von der Trikolore abgelöst. Bei Turner sehe ich keine, dafür in mehrfacher Wiederholung eine Flagge, die aus De Loutherbourgs Glorious First of June abgeleitet scheint, eine kleine Trikolore auf weißem Tuch zentriert. Woher die Idee zu dieser Form ansonsten stammen könnte, bleibt mir verborgen, in keinem anderen Gemälde finde ich sie. Crépin hat sie jedenfalls nicht auf Lager, er zeigt Trikoloren.
Und schließlich das Flaggensignal. Zu kritisieren war, dass es sowohl fälschlich noch nach Beginn der Schlacht zu sehen war, als auch, dass es am Großmast anstelle des Kreuzmastes geheißt wurde. Was kaum Erwähnung findet, unauffällig und blass wehen bereits andere Flaggen im Kreuzmast. Eine blau-weiß-rot gestreifte und darüber ein blaues Kreuz auf weißem Grund.
Das Signal, aus den Flaggen 1 und 6 zusammengesetzt, steht für »closer action« mit der Bedeutung: »Engage the enemy more closely«; also »ran an den Feind« - selbstverständlich wieder nach dem Codebuch der Admiralität von 1799, das wegen Geheimnisverlust 1805 nicht mehr galt.
Turner vermerkt 1806 auf einem Blatt, wo diese Flaggenkomination - kopfüber - Teil einer Bildlegende ist: »Signal for close [of] action«. Hier führt also eine Spur zu einer Turner-eigenen Quelle - tate.org.uk hat dieses [of] ergänzt, und unterstellt Turner damit, er habe ein »Signal zum Beenden der Schlacht« gemeint und bewertet es als seiner Fantasie entsprungen. Ohne [of], also »close action« im Sinne von »close combat«, ließe sich Turners Vermerk durchaus richtig als Nelsons Aufforderung zum Nahkampf deuten.
Auch wenn nicht direkt im Bild festgehalten, weitere Quellen, aus denen Turner schöpfen konnte, gab es. Um so erstaunlicher, dass sich nichts davon direkt im Bild niedergeschlagen hat, schließlich war Turner unter den Malern, die sich schon frühzeitig mit dem Ereignis der Schlacht von Trafalgar beschäftigten. Wie gesagt, wusste er bestimmt, wie ein Linienschiff um 1823 auszusehen hatte; merkwürdigerweise wusste er auch genau wie die Victory 1805 nach der Schlacht von Trafalgar, unmittelbar vor ihrer erneuten Instandsetzung, aussah.
Aber ebensowenig wie im Schlachten-Gemälde, lässt sich das im Folgenden erahnen.
Zwei größere Schiffe und, links im Bild, eines etwas weiter entfernt. In bewährter Manier wird ein drittes Schiff in Seitenansicht von einem Fischerboot überlagert. Zeitlich passt diese getuschte Bleistiftzeichnung auch zu den erwähnten Seestücken von 1808/1809, mit denen ich Turners Darstellungsschema zu charakterisieren versucht habe.
Er schreibt, er sei im Besitz einer Skizze, gezeichnet, als die Victory mit dem Leichnam Nelsons in den Medway einfuhr. Schetky dürfte aber gewusst haben, dass der Leichnam bereits vor Erreichen des Medways vor Sheerness auf die Yacht »Chatham« umgeladen und über die Themse nach Greenwich überführt wurde. Zwar wird der Medway im heutigen Bildtitel gar nicht erwähnt, aber ein zwingender Bezug zu »The 'Victory' Coming up the Channel with the Body of Nelson« ergibt sich auch nicht aus der Skizze - hätte es das zu dieser Zeit schon gegeben, »Ohne Titel« passte gut zu diesem anonymen Seestück.
Das Entstehungsdatum wird von tate.org.uk vage mit 1807 bis 1819 angegeben, doch gibt es Gemeinsamkeiten mit einem Gemälde, das Turner ungefähr um 1806 gemalt haben muss.
Lichteinfall von links erhellt das Meer im Vordergrund. Diesen Effekt und das raumbildende Wolkenband, hier allerdings wesentlich ausgeprägter, haben Bild und Skizze gemein.
Das Schiff links dreht ab. Zwar fällt es durch die Verblauung stark zurück und wird fast zur bloßen Silhouette, aber die backstehenden Segel des Fockmastes sind eine belebende Tat und machen das Hintergrunddekor zum Schiff. Diesmal zwei Schiffe in Seitenansicht; auf Gegenkurs steuern sie, eins links, eins rechts, aus dem Bildraum hinaus. Locker gemalt, doch trotzdem detailliert. Bei beiden erkennt man den Klüver; links ist er eingeholt und hängt über den Klüverbaum, rechts wird er anscheinend gerade verholt oder gesetzt - zumindest bauscht er sich im Wind.
Der erste Eindruck lässt beim linken Schiff an zwei Höcker denken, doch der vordere ist nicht etwa ein grob gemaltes Schanzkleid um die Back, es ist ein Boot über der Kuhl. Auch beim anderen glänzen die Dollbords der auf Deck gelagerten Boote über dem grauen Band der Finknetze im Sonnenlicht; darunter die sonnenbeschienene Flanke eines Dreideckers. Seine Stückpforten sind geöffnet und die Geschütze ausgerannt.
Die Besegelung der drei Schiffe ist ähnlich; nur das in Frontal-Ansicht hat ein gerefftes Focksegel. Eine rote Flagge, ein Red Ensign, oder zumindest dessen unterer Rand, wird sichtbar. Am Flaggenstock oder der Flaggenleine an der Besangaffel gesetzt? Beim mittleren Schiff hat man die Wahl; rechts jedenfalls weht die Flagge am Flaggenstock - dazu ist das Gleiche wie zu Constables Wasserfarbbild zu sagen; hier wird sogar noch deutlicher, wie fehl am Platz er ist, denn sollte ein Segelmanöver erfordern, das Schiff auf den anderen Bug zu legen, müsste er dazu abmontiert werden.
Einen Unterschied zu Constable sehe ich allerdings, dessen Darstellung wirkt so unglaubwürdig, weil die blanken Flaggenstöcke in der Seeschlacht gänzlich unnütz erscheinen.
Die Farbe der Flagge ist kaum als Rot auszumachen, und auch die Flagge des heranrauschenden Schiffes verblasst im Vergleich zum intensiven Farbpunkt einer Fischermütze im Vordergrund.
Wieder Boote im Einsatz, aber der Überschneidungseffekt ist nur sparsam eingesetzt. Eins davon ist nah genug, um die Gesichter der Fischer zu erkennen. Dieses Boot ist eine Konzentration vergleichsweise kräftiger Farben. Am Horizont, unmittelbar über den Köpfen der Besatzung, der Streifen einer entfernten Küstenlandschaft.
Großes malerisches Geschick steckt im Bild; man sieht sofort, dass einzelne Elemente der Komposition untergeordnet sind, dennoch macht Turner im winzigen Küstenstreifen eine genaue Ortsangabe; die Needles sind zu sehen, kleine Felseninseln vor der Westseite der Isle of Wight. Demnach befinden wir uns süd-westlich der Isle of Wight, und Richtung Süd-Westen steuert auch das nahende Schiff, gefechtsbereit, mit ausgerannten Geschützen.
Was sich Turner bei dieser Geste gedacht haben mag, bleibt unklar, es handelt sich zweifelslos um Kriegsschiffe, der Titel ist aber nicht einfach »Kriegsschiffe vor der Isle of Wight«, Turner nennt das Bild »The Victory Returning from Trafalgar« und tritt damit gleich wieder eine Kritik-Lawine los: Für aus der Schlacht heimkehrende Invaliden sehen die Schiffe zu unversehrt aus. Weshalb sind die Flaggen nicht auf Halbmast? Alle segeln in die falsche Richtung, war Portsmouth doch die erste Station in England nach dem Zwischenstop in Gibraltar.
Es gibt noch einen erweiterten Bildtitel: »The Victory Returning from Trafalgar, in Three Positions«; dieser Zusatz verleiht dem Bild einen anderen Charakter, da er eine mehransichtige Portrait-Darstellung mit ins Spiel bringt, und auf diese Weise, mit Einbindung der drei Ansichten, das Geschehen zur Nebensache erklärt.
Es wird angenommen, Turner habe dieses Bild 1806 in seiner eigenen Galerie zusammen mit dem Hauptbild The Battle of Trafalgar, as Seen from the Mizen Starboard Shrouds of the Victory ausgestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Turner seine Präsentation zum damals brandaktuellen Thema mit diesem Bild noch unterstützen wollte und es kurzerhand zum Schiffsportrait erklärte.
Mich interessiert die Portrait-Qualität von Turners Dreifach-Victory, denn Skizze und Bild haben noch etwas gemein, das sich nach längerer Betrachtung aufdrängt: für die Darstellung ein und desselben Schiffes ist das dem Betrachter nächste zu klein.
Skaliert kommt fast De Loutherbourgsche Spannung auf. Der Verdacht auf Needles hat sich erledigt, und der ausgeklügelte Nah-Fern Kontrast im Bildzentrum ist futsch. Egal, wir müssen noch näher ran, also lasse ich die Szene weiterlaufen.
Für die Fischer gings nochmal gut aus, für die Victory nicht.
Reizvolle Farbgestaltung. Das Streifengewand, flüchtig erwähnt, fällt genauer betrachtet unregelmäßig und unvollständig aus; was aber das Schiffsgesicht besonders vermissen lässt, sind die weit abstehenden Ohren der Kranbalken und die Fluken der festgemachten Anker - hier fehlen die Anker vollständig. Die Kranbalken wären zwar da, das Galion ist aber so schmal, dass sie aus der Kontur des Schiffslaibes nicht frei kommen. Nur was ist das überhaupt für ein Ding, Krieg der Sterne?
Galionsregeln, die einen so tiefen Bogen beschreiben, mitten durch das Geflecht aus Galionsspanten und -regeln stoßende Fockhalsendavits - zu unkonventionell für 1805 und schon gar nicht Henslow-like. Die Blindenrahe klein, der Klüverbaum mickrig, Turners Versuch, über den Titel die Victory ins Bild zu schleusen, scheitert, und sein cleverer Schachzug, mit dem Zusatz »In Three Positions« die Kritik am Realismus der Situation abzuwürgen, wird zum Pferdefuß, weil der Dreidecker rechterhand nichts mit dem Schiff im Bildzentrum zu tun haben will; auch in der Gestaltung liegen die Kurse über Kreuz - »Kriegschiffe vor der Isle of Wight«, mehr ist nicht drin.
Mit diesem Bild fällt es erst recht schwer zu glauben, dass Turner der Hauptaugenzeuge ist, aber schaun mer mal. Es steht wieder eine Bootstour auf dem Programm, und wieder geht es zum Medway. Nicht zu einem sonnigen Frühlingsnachmittag in Chatham, das Ziel liegt diesmal fernab vom Schuss in öder Flusslandschaft, und es ist Winter.
Papier, Bleistift, Neopren-Anzug… Ich stelle mir gerade den Förster von Venedig ohne seine Taucherbrille vor, der unterseeische Eichenwald passt natürlich auch nicht ins Bild - also gut, Zeichnen vom Boot aus ist unsportlicher, geht hier aber auch, nur allzu große Fahrzeuge mag der Medway nicht.
Auf einer einfachen Karte ohne Tiefenangaben betrachtet, sieht er nach einer riesigen Wasserfläche aus, mittendrin die »Long Reach« genannte Region. Sechs Meter Tiedenhub, wegen der Nähe zur Nordsee, lassen bei Niedrigwasser große Flächen trocken fallen, und dann wird die vermeintliche Seenplatte zum Fluss. Wir erinnern uns an Brian Laverys »the tides were so very slack«, als er erwähnt, dass sich der Werftbesuch wegen der extremen Niedrigwasser verzögerte.
Bei Long Reach misst man eine Mindest-Wassertiefe von 6,2 bis 7,4 Metern, während für das südlich anschließende Bishop Ooze 3 Meter Höhe über Kartennull eingetragen ist. Vertut man sich hier in den Gezeiten und sitzt mit dem Boot fest, wird man für ein paar Stunden Hobby-Ornithologe.
Schöne Aussichten, wäre da nicht der Schornstein des Steinkohlekraftwerks Kingsnorth. Die Meinung der Umweltschutzaktivisten ist ziemlich eindeutig: e.on - f.off.
Mit Sicherheit sind Turners Skizzen vor dem 1. Januar 1806 enstanden, da er in seinen Zeichnungen noch die Masten darstellt, welche ja erst später in Chatham im Rahmen der Schiffssanierung entfernt wurden. Hierbei handelte es sich um temporäre Masten (Jury-Rigg), die dem nur noch bedingt seetüchtigen Schiff erst kurz zuvor bei einem Zwischenstop in Portsmouth - voraussichtlich 4. bis definitiv 11. Dezember - für die Weiterreise eingesetzt worden waren.
Masten? Bei Pococks Zeichnung kein Argument.
Zitat von tate.org.ukUnterdessen, war er am 27. Dezember in London, und wie das Notizbuch von Mrs. Soane an diesem Tag festhält, deponiert Mr. Turner einen Wechsel von 120 Pfund und 15 Schilling zur sicheren Verwahrung während seiner Abwesenheit auf dem Lande. Diese 'Abwesenheit' muss der Trip zum Medway gewesen sein.
Turner war also laut tate.org.uk zwischen den Jahren in Long Reach. Was hat er da gesehen?
Das Format seines Skizzenbüchleins ist 11,4 x 18,4 cm, darin hält Turner im Wesentlichen seine Eindrücke zur Victory fest. Schon der Name Nelson-Sketchbook sagt, er nimmt das Schiff ganz anders wahr als Constable. Der zeichnete das neu ausgerüstete Schiff zu einer Zeit als Nelson noch nicht dessen zweiter Vorname war; »die vielen Kriegschiffe« veranlassten ihn zum Abstecher nach Chatham, und bei dieser Gelegenheit begeisterte er sich für die Victory.
Turner besucht das Schiff gezielt während seiner »Abwesenheit auf dem Lande«. Kein Auftrag, aber der Wettbewerb zum Death of Nelson war ausgerufen.
Als Beleg für eine beobachtete Situation in Sheerness kann man die undefinierte Tuschzeichnung »The 'Victory' Coming up the Channel with the Body of Nelson« schon deshalb nicht nehmen, weil diese Zeichnung so gar nicht zu dem passt, was er 10 Kilometer flussaufwärts direkt vor Ort in Long Reach produziert.
Schnell das Wichtigste. Die Blindenrah als einfache Linie. Kein Stampfstock; anders als bei Constable ist der aber vorhanden, wie wir noch sehen werden. Was nicht in Eile weggelassen ist: das Fallreep. Es definiert das Bauchige des Schiffsrumpfes (ohne Admiralspforte in Kombination).
Nichts Ungewöhnliches an den Rüsten, die Kreuzrüstbretter liegen mit den übrigen Rüstbrettern auf einer Höhe, und um späteres Rätselraten zu ersparen, mache ich darauf aufmerksam, dass die Want- und Rüstjungfern, mit Taljereep gespannt, ausnahmslos bis knapp über die Oberkante der Schanzkleider reichen.
Zwei Geschützpforten unter den Fockrüsten, eine davor - nein, zwei. Ist hier der Rumpf etwas zu lang geraten? Zwei Pforten darunter, also offensichtlich: ja. Ein anderer Gedanke, vielleicht ist das Jury-Rigg um einige Wanttaue reduziert. Auch wenn hier das Rüstbrett einfach nur verschoben erscheint, den Gedanken des reduzierten Jury-Riggs behalte ich im Auge. Sowohl den Fock- als auch den Großrüsten folgt etwas abgesetzt eine einzelne Linie, das könnten Hinweise auf separate Backstag-Rüsten sein.
Ohne besondere Hervorhebung von Einzelheiten fügt sich der Spiegel an. Gut zu erkennen die Scheinballustraden, zu erahnen, das Wappen, eindeutig nicht mehr vorhanden: die Laternen.
Insgesamt erscheint das Achterschiff deutlicher im Hell-Dunkel der Bleistiftschraffur, wodurch eine Unstimmigkeit hervorsticht: die Fensterzeilen sind mit den falschen Decks verbunden. Nicht das Pfortenband des unteren Batteriedecks, sondern das des mittleren, müsste in die untere Fensterreihe übergehen. Bei Turner ist alles um eine Decksebene verschoben.
Die Rundung am Heck und das Ruderblatt sind die sparsame Begrenzung des unteren Schiffsrumpfes. Das Volumen fehlt, aber so weit ragt die Victory aus dem Wasser, leergeräumt und darauf vorbereitet, die letzten Meter über den Medway in die Werft nach Chatham gewarpt zu werden.
Und jetzt die kosmetische Korrektur des Decksverlaufs in Farbe.
Eine Lage Neuschnee? Nein, Turner wird es uns noch selbst verraten, das ist die bereits erwähnte Abdeckung der Schanzkleider und Finknetze aus weißem Stoff.
Die Flagge ist nicht hinzugedichtet sondern sorgfältig aus feiner Linie herausgearbeitet; mit der Farbe liege ich bestimmt falsch, vermutlich das Rot, welches sich in Turners Dreifach-Portrait eingeschlichen hat, doch irgendwie hat sich Nelsons White Ensign durchgesetzt und bleibt aus unerfindlichem Grund umgestaltungsresistent.
Im schnellen Notizstil der Skizze hat die Besegelung wenige Spuren hinterlassen. Schaut man nach Sichtung des übrigen Materials nochmals hin, sieht es schon anders aus. Die unscheinbare Spur am Kreuzmast gibt sich nur zögerlich als Segel zu erkennen, entschiedener die flüchtige Einlassung hinter dem Großmast - so sieht das festgemachte Kreuzstagsegel aus… Der Wirkung halber vielleicht nicht fest genug.
Bewusst nähern wir uns in dieser Gesamtansicht dem Skizzenkomplex, sie beweist, die Victory ankert in freiem Gewässer.
Hallo Michael @Maik.L Inzwischen bin ich nicht nur beeindruckt, von dem, was und wie Du hier schreibst, ich bin auch total platt, wie Du die Gemälde veränderst. Die Victory in Turners Trafalgar-Gemälde wird plötzlich zum Zweidecker oder liegt tiefer im Wasser, auf einem anderen Gemälde kommt das Schiff auf einen zu gesegelt, in #66 lichtet sich der Nebel nach und nach...wie machst Du das?
bis denne Willi
Es ist nicht alles falsch, was man nicht versteht.
Wir sind jetzt nämlich längsseits und blicken in Richtung Schiffsheck. Zu unseren Füßen bemerken wir schwer zu bestimmende Zeichen. Ich schließe mich der Beschreibung bei tate.org.uk an, in der eine Winde innerhalb dieser Formen Kontur gewinnt; der in der Bilderläuterung geäußerten Annahme, die Gegenstände setzten einen Steg oder einen Anleger voraus, widerspricht aber die vorherige Ansicht, es kann sich eigentlich nur um ein Fahrzeug handeln. Und nicht nur die Zusammensicht des Skizzenmaterials lässt darauf schließen, aus der Karte ging bereits hervor, dass die landschaftlichen Attraktionen aus Wasser, flachen unbewohnten Eilanden und temporären Schlickebenen bestehen.
Innerhalb der Schiffsgeschichte ist der Medway immer wieder Standort der Victory, hierhin wurde ihr Rumpf auch 1797 neben andere Gefangenen-Hulks geschoben und blieb zwei Jahre im Dornrößchen-Schlaf.
Noch ein anderer Grund spräche dafür, dass Turner diese Skizze nicht aus sicherem Stand an Land fertigte, er hätte wirklich nicht so hetzen müssen, um die paar wenigen Formen aufs Papier zu werfen. Vermutlich ist es das vorgezeichnete Großrüstbrett, das geisterhaft oberhalb der deutlich gezeichneten aber wesenlich kleineren Form erscheint; kann es sein, dass in der unmittelbaren Nähe zur Bordwand viel Unruhe und Bewegung im Spiel ist?
Transformiere ich mithilfe der Gesamtansicht aus den Linien ein Bild, ist Vieles zu ergänzen; zunächst jedoch suche ich mir aus den herumliegenden Formen ein Deck mit Mast und Baum als Zwischenblende zusammen - aber bitte nicht ganz so kritisch betrachten; ich gehe einfach davon aus, dass diese Fomen nicht zur Victory zählen, und Turner ihnen keine weitere Aufmerksamkeit widmete. Als Lesart der waagerechten Linie, käme ansonsten noch eine außenbords gelagerte Ersatzspiere in Frage, nur leuchtete mir deren Sinn nicht ein; das Schiff wird komplett demontiert, und Turner verzichtet in der Gesamtsicht auf irgendwelche Andeutungen.
Gemessen am Tiefgang der Victory, liegt der Standpunkt des Zeichners relativ hoch; zumindest oberhalb des unteren Batteriedecks. Eine Solo-Bootsfahrt wie bei Constable scheidet in Annahme dieses Fahrzeugs aus. Ob in Long Reach schon der von Lavery erwähnte Run aufs Schiff einsetzte? Zumindest wird Turner innerhalb einer Besuchergruppe unterwegs gewesen sein. Im Nelson Sketchbook nicht mehr als ein Verdacht, aber eine der großen Deckszeichnungen gibt Anlass zu dieser Vermutung - und im Übrigen: Willkommen zu Turners Mystery-Tour!
Es geht rund ums Schiff, nicht in der durch John Ruskin veränderten Abfolge des Skizzenbuchs, wir befahren die spannendere Route entgegen dem Uhrzeigersinn - und wenn das mit dem vorgezeichneten Rüstbrett stimmt, war das auch Turners Richtung.
Erstes Ereignis, wir lösen uns auf. Keine störendes Bootsdeck verstellt die Sicht. Momentaufname aus allernächster Nähe. Jenseits von Constables statischen Komplettansichten existiert eine andere Sprache. Hamsterblick, dieser Gedanke ist am Werk. Hastig ein paar Linien zusammengerafft und ohne zu zögern die Hürde des ungewöhnlichen Blickwinkels genommen.
Dennoch glaube ich nicht, dass Turner in gleicher Konsequenz zu diesem Bildergebnis gekommen wäre, »A First Rate taking in Stores« von 1818, das ist sein Weg; im Ansatz modern, doch ohne die Routine fotografischer Mittel bleibt es beim unförmigen Klotz.
Turner, A first-rate taking in stores, 1818, Public domain
Dessen ungeachtet, offenbart sich in diesem Bild klar das romantische Schema: überdimensonale Schiffslaiber in kochendem Wasser aus Sicht eines Ertrinkenden. Nicht weniger faszinieren die Schiffe im Hintergrund: schwimmende Türme.
Welcher Wirklichkeit die ungestalte Bugform des First Rates wohl entsprang? Eine vergleichbare Erfindung wie in »The Victory Returning from Trafalgar, in Three Positions«.
Gemessen an der Größe der Personen hat der Anker normale Ausmaße, auf das Schiff bezogen ist er winzig. Stellt man sich den angeschnittenen Rumpf als Körper vor, wird deutlich, dass Turner kein wirkliches Schiff zum Vorbild hatte; die gezeigte Rumpfhälfte gedoppelt ergäbe in der Vervollstänigung ein Ungetüm, noch höher aus dem Wasser ragend als die anderen beiden - HMS Kingdom Tower!
Ohne Vorlage vergrößert sich der Abstand zur technischen Wirklichkeit rasant; keine Spur eines sichernden Bauklötzchen-Schemas: »Denke immer daran, zeichne es zuerst als schwimmende Tonne oder Fass«.
Life and letters of John Constable, R.A. von Charles Robert Leslie - 1896, Page 20 Chapter 1
So flüchtig Turners in Long Reach gefertigte Zeichnung auch ausfällt, das Gesehene, nach dem sie sich richtet, ist zu spüren; wie auch in der folgenden.
Unordentliche Geschützpforten, und etwas fällt auf, dass gar nicht da ist. »The starboard cathead shot away«, notiert Fähnrich R. F. Roberts in seinem Remark-Book. Ein offizieller Schadensbericht existiert nicht, aber von ihm gibt es einige Hinweise zum Zustand des Schiffes nach der Schlacht.Allein die Stütze des weggeschossenen Kranbalkens, die Drückerkonsole, ist geblieben. Spannende Aufgabe wird sein, herauszufinden, ob sich in den Skizzen außer dem fehlenden Kranbalken noch andere Schäden bemerkbar machen.
Der interessanteste und auch der ausführlichste Teil dieser Skizze, ist wohl der Bugspriet. Gezeichnet hat Turner den Sprietbaum, den verlängernden Klüverbaum und den Stampfstock.
Nicht vorhanden, der Außenklüverbaum und das Eselshaupt - die Stirnplatte am vorderen Ende des Sprietbaums, welche den Klüverbaum hält und Fundament des Außenklüverbaums ist. Die Blindenrah hat Turner weggelassen, aber sie war da; auf die Ersatzlinie hatte ich in der ersten Skizze schon aufmerksam gemacht.
So in etwa stellt sich der Unterschied zum vollständig getakeltem Bugspriet dar (Das Eselshaupt wäre noch wegzuretouchieren). Oberblinde und Gösch fehlen ebenfalls in der Skizze.
Vielleicht liege ich nicht falsch und Turner hatte bei dieser Skizze wirklich wenig Zeit; zumindest zu wenig, um die Verbindung von Bugspriet und Klüverbaum richtig zu erfassen. Bei ihm wirken die beiden Hölzer wie aus einem Stück. Aber möglicherweise stellt Turner einen notdürftig repariertes Teil dar, und das fehlende Eselshaupt ist eine gezeichnete Tatsache. »the bowsprit jibboom and cap shot« - Bugspriet, Klüverbaum und Bugspriet-Eselshaupt zerschossen, schreibt Fähnrich Roberts, »and flying jibboom gone«. Ohne die Erwähnung des verschwundenen Außenklüverbaums käme man nach bisher Gesehenem nicht darauf, dass er bei Schiffen dieser Zeit überhaupt vorhanden war, zeitgenössische Marinegemälde kommen meist ohne ihn aus; deshalb auch keine Oberblinde. Unauffällige aber regelbestätigende Ausnahme: Die dänische Prise und zwei Schiffe im Hintergrund in Boat’s crew recovering an anchor.
Angesichts der fehlenden Blindenrah stellt sich natürlich die Frage, ob die Linien im Bugspriet ohne Eselshaupt eine funktionsfähige Konstruktion beschreiben. Auf Turners Mystery-Tour sehen wir den Bugspriet insgesamt dreimal - in der Gesamtansicht, hier und in der Deckssizze »From Poop to Quarterdeck«, aber solange man auch sucht, Turner präzisiert nicht.
Ich bleibe bei der Methode des Einblendens, wegen der fließenden Veränderung hin zur plastischen Form, und weil man im Halbbild ohne langes Rätselraten auf Abbweichungen bzw. Ergänzungen aufmerksam wird. In diesem Fall ist es das zeichnerisch deformierte Rüstbrett und der überzogene Winkel der angedeuteten hinteren vier Wanten, die gewiss zu keinem realistischen Ziel führen. Das Schanzkleid um die Back, Fockhalsbaum und Blinde werden ergänzt. Ob das ein Teil des Mastes oder der Takelage ist? Nach dem Winkel der ersten Wanten müsste hier jedenfalls der Fockmast erscheinen und entsprechend ergänzt: das Großstag.
Veränderte Rüsten, zu schwierig sind Turners Fragmente zu rekonstruieren, und zudem erscheint seine wacklige Form recht unwahrscheinlich.
Aus der Entfernung hat Bewegung keinen so großen Einfluss, deshalb glaube ich auf Grundlage der Gesamtansicht sagen zu können, die gezeichneten Fragmente der Rüsten stehen nicht im richtigen Zusammenhang. Veränderung des Standpunktes erklärte auch den unterschiedlichen Neigungswinkel der Wanten. Geglättetes Durcheinander in der Farb-Umsetzung. Nicht wegen der gezeigten Gesamtansicht allein - wir werden sehen…
In seinem Schlachtengemälde versteckt Turner den lädierten Bugspriet unter zusammengeknäultem Segeltuch, Fähnrich Roberts beschriebene Mängel einbezogen, dürfte er in der Schlacht dem auf der Fotomontage rechts abgebildeten geglichen haben - und sogleich gehts ein paar Meter weiter…
Allerhand Ungewohntes, besonders das Galion. Diesesmal formt nicht Turners Erfindungstrieb; ich sehe drei Simse ähnlich wie am beschriebenen Vollrumpfmodell bzw. im Plan der Dreadnought, und, um die Bauform noch zu unterstreichen, bringe ich das Halbmodell ins Spiel.
Auf den ersten Blick sieht es moderner als das auf 1805 datierte Vollrumpfmodell aus, aber das Entstehungsdatum wird laut NNM in die Zeitspanne des Great Repair zwischen 1800 und 1803 eingeordnet.
Man sollte sich nicht durch die weißen Pfortenbänder irritieren lassen. Das Modell steht in seiner Machart ganz in der Tradition von Halbmodellen, wie sie zahlreich und gleichgearbeitet im NMM zu finden sind, eines davon, Fenix, ist sogar wesentlich älter als das der Victory. Angegeben ist das Jahr 1780, offenbar in der Annahme, das Modell entstand in dem Jahr als das spanische Schiff erobert und zur englischen »Gibraltar« wurde.
Die größere Zahl reicht weit in die Dampfschiffära hinein. Allen gemein ist das Schwarz-Weiß-Layout; als Gestaltungsmuster erst gegen 1814 in der Royal Navy etabliert, verleiht es diesen Modellen nahezu zeitlose Wirkung. Miteinander vergleichbare Schiffstypen unterscheiden sich insofern hauptsächlich in Umrissform und Qualität der Ausführung.
Der Verlauf der Pfortenbänder folgt anders als bei den Vollrumpfmodellen nicht dem Schwung der Barkhölzer, und wirkt in dieser Form realistischer. Obligatorisch auch das Rotbraun, das an ein gekupfertes Unterwasserschiff denken lässt.
Etwas ganz Erstaunliches muss man hier feststellen, wenn man das frühe Modell der Fenix sieht: 1780 nicht nur schwarz-weiß sondern auch gestreift. Man fragt sich unweigerlich, wie wohl das echte Schiff ausgesehen haben mag. Hatte ich doch schon auf De Loutherbourgs 1795 gemalte Montagne hingewiesen, bei diesem Modell wird das spätere Muster um weitere 15 Jahre vorweggenommen. Eindrücklich wird hier klar, in Fragen der Farbgestaltung kann man sich nicht an Modellen orientieren.
Offen bleibt weshalb die Victory wiederum im Modell eines 98ers präsentiert wird. Auch hier fällt sofort die achtern fehlende Geschützpforte und das steile Heck auf. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der vorgestellten Objekte herauszuarbeiten ist vergebliche Mühe und wird auch diese Frage nicht klären. Interessant fand ich aber den größeren Pfortenabstand im oberen und unteren Batteriedeck bei beiden Modellen an der Stelle zu sehen, wo das Fallreep verläuft bzw. vorgesehen ist.
Vorwand diese »Victory« zu erwähnen, ist und bleibt aber das durch die Handschrift John Henslows geprägte Galion, das, mit Blick auf Turners Long-Reach-Skizze, ebenfalls zum echten Schiff passt.
Beim Dreadnought-Plan von 1802 und dem Vollrumpfmodell gibt es keine Verbindung von Drückerkonsole und Galionsregel, anders beim Halbmodell, wo anstelle einer geraden Stütze eine schwungvoll gebogene in die zweite Galionsregel übergeht.
In Turners Skizze stiften ein paar Linien an dieser Stelle Verwirrung - ich vermeine am untersten Ende zwischen den angedeuteten Haltetrossen einen Ringbolzen zu erkennen - Materialintention wäre also Tauwerk. Gegen die Vermutung, es handle sich um einen festen Bestandteil des Galions, spräche, dass noch die Lüftungspforte im mittleren Batteriedeck fehlt, bzw. von diesem Gegenstand verdeckt wird.
Spontan entschieden: ein Bugstag, dessen loses Ende nicht mehr am Bugspriet befestigt ist - falls diese Verunklarung am Galion der Victory nicht ganz anders zu begründen ist.
Turners Trafalgar-Gemälde könnte in dieser Frage Gewissheit schaffen; zwar stellt er diese Partie dar, wir stoßen hier aber auf eine noch rätselhaftere Form. Nicht dass Turner hier dezidiert die Dreadnought-Variante wählt, hinter dem Bogen der oberen Galionsregel entsteht durch eine undefinierte flächige Form der Effekt, als ginge die zweite Galionsregel in die Drückerkonsole über, tatsächlich aber eine Täuschung, denn die zweite Galionsregel verläuft im Gemälde viel tiefer und endet unvermittelt an der Stelle, wo sie auf den Rumpf trifft. Im bereits erwähnten »A First Rate taking in Stores« ist der verkümmerte Kranballen zwar nicht unter Segeltuch versteckt, wegen seines undeutlichen Bezugs zum Galion sieht man ihn aber nicht sofort.
Eine technisch erklärbare Darstellung dieser Verbindung zwischen Kranbalken und Galion gibt es in keinem Bild Turners. Es könnte also durchaus sein, dass er in der Skizze einen ähnlichen Ausweg findet.
Schanzkleid um die Back
Die vorderste Öffnung ist recht deutlich und wenig problematisch, anders ist es, sieht man in den folgenden zwei Rechteckformen ebenfalls Öffnungen im Schanzkleid - rechtfertigen ließe sich das mit einer vergleichbaren Anordnung bei den Modellen, störend sind dann aber die Rüst- und Wantjungfernblöcke, sie scheinen in großem Abstand vom Rüstbrett über der Oberkante des Schanzkleides fixiert zu sein.
Ich hatte eingangs bei der Gesamtansicht das Augenmerk auf die Fockrüsten gelenkt, um festzuhalten, dass sie in der Darstellung nicht sonderlich auffällig werden. Auch die vorherige Skizze lässt in dieser Frage keinen Zweifel zu. Wenn auch recht fragmentarisch erwähnt: zwischen Rüstjungfern und -brett gibt es dort keinen derartigen Abstand, und zu alldem bietet ein frisch getakeltes Jury-Rigg gewiss keinen solch merkwürdigen Anblick - ein Einwand der übrigens gleichermaßen für den Bugspriet und das fehlende Eselshaupt gilt.
Auf der anderen Seite des Interpretationsspalts käme nur eine starke Untersicht als Erklärung in Frage, stärker noch als im Blick nach Achtern der zweiten Skizze. Dann wären die Öffnungen durch ein Rüstbrett verdeckt, von dem ansonsten jede Spur fehlt. Die Linien sind zwar ohnehin schwer vom Stakkato der Rüsteisen auseinanderzuhalten, doch ergibt sich daraus genausowenig ein stimmiges Gesamtbild wie im anderen Fall.
Den Blick aufs Schiff geheftet zeichnet Turner drauflos, als routinierter Vielzeichner schert er sich nicht um hinterlassenes Durcheinander. Dieser »Hamsterblick« ist für mich die schlüssigste Erklärung der rätselhaften Anordnung um die Partie des Schanzkleids - und darüberhinaus übertragbar auf die übrigen Long-Reach-Skizzen.
Eines ist sicher, im Vergleich zum Halbmodell fällt Turners Schanzkleid vergleichsweise niedrig aus.
Ich sehe einen über den Bug fortgesetzten schwarzen Streifen zwischen den unteren Batteriedecks; hätte die füllende Schraffur gefehlt, dächte ich an Hilfslinien, aber so sieht es stark nach „Achtung, hier Schwarz!” aus.
Turners Trafalgar Gemälde lässt auch hier Spuren der Long-Reach-Skizzen vermissen. Gerade diese fortgesetzten Streifen hätten das Bild prägen müssen, aber es ist ähnlich wie bei der versteckten Fortführung der zweiten Galionsregel, man gewinnt den Eindruck, Turner unterbricht den dunklen Streifen durch das Ankerkabel und vergisst ihn weiterzumalen. Weshalb er im Ankerkabel versickert, lässt sich nicht erklären auch nicht mit der zweiten Ölskizze; durchgehende Streifen, locker und schnell gemalt.
Ungewiss hingegen ist, wie die Konsruktion über der oberen Galionsregel in dieser Ölskizze gemeint ist. Im Trafalgar Gemälde ist ein netzbespannter Rahmen dargestellt, in Long Reach deutet alles auf eine Holzverblendung hin, über deren unteren Rand sich der schwarze Streifen zwischen oberem und mittlerem Batteriedeck zieht.
Beim Einblenden der Farbe wird klar, Turner betont sehr den Verlauf des Großstags, und es ist sichtbar, weil ein paar Wannten fehlen. Das vordere Ende des Rüstbretts markieren zwei Blöcke - zumindest müsste das Rüstbrett so verlaufen, denn die Victory ist ja kein Sonderfall - eine Pforte vor dem Rüstbrett, zwei darunter und so lang, dass die nächste Pforte gleich daran anschließt.
Lange kein Weg, die Widersprüche malerisch aufzulösen, bis ein Sonnenstrahl das Nachdenken beendet und das Problem schwebender Jungfern und Taljereeps durchleuchtet; so stört es nicht.
Zwei Kabel im Ansatz. Durch die Ankerklüsen laufen sie eindeutig nicht.
Was hat diese runde bzw. elliptische Form an dieser Geschützpforte zu suchen? Ist da etwas über den Lukendeckel genagelt oder ragt es aus deckelloser Pforte heraus? Wenn ich die Linien dieser Pforte in rote Innenwand und dunklen Raum verwandle, zerstört sie die Bildperspektive.
Der fotografische Ausschnitt im Verein mit japonistischer Flächenaufteilung nahm erst auf die nächste Malergeneration tiefgreifenden Einfluss, zu einer Zeit als die Fotografie, den Kinderschuhen entwachsen, laufen lernte - man denke an Bilder von Edgar Degas. Insofern verbietet sich natürlich die Kritik an Werken wie »A First Rate taking in Stores«, sie ist nach zeitperspektivischem Maßstab ungerechtfertigt. Zur Auflockerung der Bildbetrachtung gedacht, ist sie keinesfalls abwertend gemeint.
Es hilft alles nichts, ich stoße an die Grenzen der Skizzeninterpretation und erkläre die Pforte für geschlossen - eine andere Grenze lässt sich aber vielleicht überschreiten. Das Heck des Caledonia-Modells hatte ich ja bereits gezeigt - die Ansicht der Rumpfhäflte von vorn schafft die Gelegenheit, einen raschen Blick über Turners Schulter auf den Bug der Victory zu werfen.
Cathead shot away
So in etwa. Schön zu sehen, die V-förmigen Galionsspanten. Wolfram zu Mondfeld sieht in der reduzierten Anzahl (Modell der Caledonia und Vollrumpfmodell) ein Zeichen des Fortschritts…
Historische Schiffsmodelle . Das Handbuch für Modellbauer, Wolfram zu Mondfeld, Bassermann Vrtlag 2008, Seite 122
Bei Turner sinds unmoderne vier. Im Plan der Dreadnought sind es um 1788 übrigens fünf, und nach wie vor fünf um 1802 - bzw. viereinhalb; de Loutherbourg gibt uns in seiner Queen Charlotte das Bild. Beim 1796 angefertigten Plan der Caledonia hingegen sind es, im Unterschied zum Modell, vier. War der Modellbau seiner Zeit voraus, oder ging er in der Reduktion, der Farbgestaltung der Halbmodelle vergleichbare, eigene Wege? In diesem Zusammenhang finde ich auch die Sizze von HMS Mars nach Trafalgar erwähnenswert, die dafi im Thread Zeichnung von Livesay zeigt: viereinhalb.
»Armer en flûte«, Bewaffnet wie eine Fleute, meint eigentlich ein zu Transportzwecken leergeräumtes Schiff, gleichzeitig assoziert man Flöte und hat damit ein treffendes Bild von Zustand und Aussehen des Schiffes.
So gesehen dürfte die Victory keinen reinen Ton erzeugt haben, in der letzten Schiffsansicht der Tour tanzen ein paar Pfortendeckel aus der Reihe. Im Vergleich wird aber noch ein weiterer Missklang laut. So fällt in der ersten Bug-Ansicht etwas besonders auf. Relativ ausführlich stellt Turner eine geöffnete Pforte dar, in der zweiten Bug-Ansicht ist sie geschlossen; man sieht die Dachrinne. Ist es ein Anzeichen dessen, womit uns Turner noch Kopfschmerzen bereiten wird? Diese geöffnete Pforte wirkt sehr exemplarisch und wie eine Notiz ins Bild gesetzt.
Im Prinzip ist es in Turners Trafalgar-Gemälde wie in anderen Schlachtengemälden auch, die Geschütze sind ausgerannt, und von den Lukendeckeln sieht man allenfalls die rotbemalte Innenseite; bis auf drei Pforten, die erinnern entfernt an die in Long Reach gesehenen Unregelmäßigkeiten - aber vor allem sind ihre Deckel nicht schwarz.
Brian Lavery schreibt in »The Ship of the Line: A History in Ship Models«, Nelson machte den schwarzen Rumpf mit ockerfarbenen Pfortenbändern und schwarzbelassenen Stückpfortendeckeln, Nelson Chequer genannt, populär…
The Ship of the Line: A History in Ship Models von Brian Lavery, ISBN/SKU: 9781591141877 seite 121
Genauso wie McKay die schwarzen Deckel zu den Repair-Maßnamen zählt.
The 100-Gun Ship Victory (Anatomy of the Ship) von John McKay, 1987 Conway Maritime Press, Seite 12
Anders formuliert Max Adams, demnach entstand der Schachbrettmuster-Effekt durch ein Zusammenspiel der aufgemalten Streifen entlang der Batteriedecks mit den geöffneten Stückpforten.
Admiral Collingwood: Nelson's Own Hero von Max Adams, Published June 9th 2005 by Weidenfeld & Nicolson
Nelson Chequer also nicht generell synonym für die Seitenansicht eines Linienschiffes dieser Zeit, sondern speziell für ein gefechtsbereites.
Klar ist jedenfalls, als Erkennungsmerkmal innerhalb einer Schlacht funktionieren schwarze Geschützpforten nicht; Max Adams nennt uns als sinnvolles von Nelson angeordnetes Zeichen die bereits angeführte Bemalung der Untermasten, um die schwarzen Eisenbänder verschwinden zu lassen, damit ein deutlicher Unterschied zu den Masten der spanisch-französischen Flotte entsteht. Passend dazu auch Nelsons Anweisung vom 10. Oktober 1805
Zitat von William Gordon, British flags, 1874In Gegenward des Feindes, sollen alle Schiffe unter meinem Kommando, die weiße Flagge zeigen, und vom Vorbramstengestag soll ein Union-Jack hängen.
Dennoch, eine Begebenheit, bei der das Muster schwarzer Geschützpforten sinnvoll eingesetzt wurde, gibt es: die Linienschiff-Mimikry bei der Ostindienfahrerschlacht vor Pulo Aor im Februar 1804. Allerdings war hier nicht das Erscheinungsbild der Schiffe alleinentscheidend, überzeugend wirkte das Täuschungsmanöver, weil es den Kommandanten der China Fleet perfekt gelang, mit Handelsschiffen das Verhalten eines britischen Geschwaders zu immitieren.
Vorgespiegelte Gefechtsbereitschaft zur Verunsicherung des Gegners war auf größere Entfernung als Drohgeste und Vermeidungsstrategie bestimmt sinnvoll, spricht aber eine ganz andere Sprache als die einheitlich gefärbten Untermasten zur Identfizierung englischer Kriegsschiffe inmitten eines unübersichtlichen, durch Pulverqualm vernebelten Pell-Mell Battles.
Brian Lavery sieht eine erste Spur der Nelson Chequer in einer Bemerkung des Captain Codrington, der, als er am 15. August 1805 vor Ushant (Ouessant) mit HMS Orion auf Nelsons Flotte stößt, sich beeindruckt zeigt vom guten Zustand der Schiffe nach der langen Zeit auf See und dem erkennbar hohen Grad von Disziplin; in ihrer Erscheinung nicht schön im herkömmlichen Sinne, doch streitbar im Ausdruck, und so, dass er beschloss, sein Schiff diesem Muster anzupassen.
Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace von Brian Lavery, EAN: 9781612518671, U S NAVAL INST PR, April 2015 - Seite 128
Was deutlich in Codringtons Kommentar anklingt, die Kanalflotte Collingwoods, zu der die Orion gehörte, unterschied sich offenbar stark im Aussehen von Nelsons Mittelmeerflotte. Der Anstrich wird aber nicht klar genug beschrieben, um »Nelson Chequer« als Teil der Bemalung zu definieren, zumal Lavery, der das Streifen-Layout Nelsons Initiative zuschreibt, relativiert, es gebe keinen Beweis dafür, doch gleich im nächsten Satz die schwarzen Pfortendeckel als Vervollständigung des Erscheinungsbildes anfügt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass kein praktischer Wert damit verbunden, möglicherweise aber damit ein Erkennungszeichen auf Distanz gegeben sei.
Im Kurzschluss verdirbt die Missdeutung schwarzer Pfortendeckel im Ostindienfahrer-Hack diese Art der Bemalung als Beispiel eines klaren Erkennungszeichens.
Auch aus dem, was Fähnrich Rivers den »slight refit« - nach dem Zusammentreffen der Flottenverbände, ausgeführt in Portsmouth vom 18. August bis 14. September 1805 - nannte, geht nur hervor, dass die Barkhölzer erneut geschwärzt wurden, und das scheint mir die eigentliche Beschreibung des Bildes zu sein.
Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace von Brian Lavery, EAN: 9781612518671, U S NAVAL INST PR, April 2015 - Seite 128
Newark, Das Modell eines 80-Kanonenschiffes, ist in der Machart zwar nicht dem zeitlosen schwarz-weiß der Halbmodelle vergleichbar, stellt aber den bisherigen Streifen-Rekord ein: 1747. Bei diesem Brot- und Buttermodell liegt die gewünschte Wirkung in der Bemalung, und hier ist nicht nur, wie zur Entstehungszeit des Modells üblich, das unterste Barkholz geschwärzt, sondern auch eines der zwischen den Decks liegenden - bemerkenswert übrigens auch die aufgemalten Galionssimse dieses Modells, drei an der Zahl und das unterste mehr oder weniger genau der Form in Turners Skizze entsprechend. Aber Newark hinkt der Zeit hinterher, Rüsten und Galion haben den Aufwärtstrend nicht mitgemacht, und der große Löwe ist alt.
Brian Laverys »blacking the wales outside the hull« ist ein interessanter Ausdruck, weil er die Entwicklungsgeschichte der Streifen in einfache Worte zu fassen vermag.
Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace von Brian Lavery, EAN: 9781612518671, U S NAVAL INST PR, April 2015 - Seite 128
Schwarze Linien in Breite der Barkhölzer. Vermutlich zur Redewendung geworden, wie auch die größere Wirklichkeitsnähe der Halbmodelle in diesem Aspekt zeigt, bleiben Vollrumpfmodelle dem anschaulichen Schwärzen der Barkhölzer treu.
An dieser Stelle noch eine Anmerkung zu Brian Lavery's »Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace«. Auf Seite 102 geht er auf das Vollrumpfmodell im NMM ein. Wie gesagt, denke ich, das Schwärzen der Barkhölzer hat bei diesem Modell nichts mit der Anwendung am Schiff zu tun, und genausowenig sollte man das Fehlen der schwarzen Deckel damit in Verbindung bringen. Auch das Senfgelb ist eine Besonderheit dieses Modells - auf die Farbe komme ich gleich noch zu sprechen. Ob also mit oder ohne schwarz bemalte Lukendeckel, der Bumble-Bee-Look steht fest, doch genau genommen gehört diese Umgestaltung nicht ins Maßnahmenpaket des Great Repair. »Newly painted« schreibt Constable, sieht aber nicht Biene Maja sondern den frischen Werftanstrich nach Schema Buff and Black. Bumblebee wird die Victory erst auf Initiative Nelsons, erklärt Lavery.
Angenommen es stimmt, dass De Loutherbourgs Farbgebung der Montagne in seinem »Glorious First of June« den Kontinental-Trend abbildet - und Crépins gestreifte Redoutable spräche dafür - welches Motiv leitete Nelson, entgegen seiner Bemühung um eindeutige Unterscheidungsmerkmale für den Nahkampf, die neue Werftbemalung zu ändern und dem Trend zu folgen?
Ginge es nach Crépin: Eigenwillen. In seinem Gemälde stehen erwartungsgemäß gestaltete englische Schiffe im Kontrast zum eigenwilligen Aussehen des Flaggschiffs. Es gab zwar keine Gestaltungsverordnung, wie Lavery erwähnt, doch sollten die Hornblower-Romane diesbezüglich den Tatsachen entsprechen, war das gar nicht notwendig, solange ein Kommandant die Empfehlung des Admirals als Befehl zu verstehen hatte.
Jenseits von Verordnung und Befehl existierte aber noch die Anziehungskraft des »Nelson Touch«. Also »Nicht schön aber anziehend eigenwillig«, ist der Impuls des erneuernden Moments, der in Captain Codrington Worten von Nelsons Mittelmeerflotte ausgeht. Ist es dieser auratische Touch, der das Bild geöffneter Stückpforten zwischen geschwärzten Barkhölzern zum Denkmal »Nelson Chequer« umfunktioniert?
Zur verborgenen Kanone in Turners »From Poop to Quarterdeck« hatte ich schon mal auf ein Gespräch (1813) zwischen dem Bühnenmaler James De Maria und Turner hingewiesen, Thema war, ob man Dinge darstellen solle, die dem Auge nicht erkennbar sind. De Maria wandte sich angesichts eines 74-Kanonenschiffes mit dieser Frage an Turner; es sei bildwichtig, die Geschützpforten darzustellen, auch wenn man sie definitiv nicht erkennen kann, weil man sich ihres Vorhandenseins bewusst sei. „Wir können nur darstellen was zu sehen ist”, widersprach Turner, „ob es existiert, darauf kommt es nicht an. Da sind Leute im Schiff - wir sehen sie nicht durch die Beplankung”.
Britannia’s Palette: The Arts of Naval Victory, 1944, von Nicholas Tracy - Seite 299-300
Geschützpforten, die nicht zu erkennen sind. Damit meinte De Maria gewiss geschlossene Pforten. Passt dieser Gedanke zu schwarzen Quadraten auf hellem Grund? Natürlich nicht. Aber damit ist nichts bewiesen, denn was diese Geschichte wirklich aussagt: Schiffe konnten anders aussehen, und die marine Welt war 1813 auch bestimmt nicht überall gestreift.
Achso - bei der stark kritisierten Victory in Turners Schlachtengemälde suche ich die Lüftungspforte; bei zwei der halb geöffneten Lukendeckel sind die Beschläge hervorgehoben. Folgt Turner damit De Marias Kennzeichnungswunsch, ist die unsichtbare Lüftungspforte ein weiterer Kritikpunkt, zumal »A First Rate taking in Stores« zeigt, wie er die Pforte hätte darstellen können. Zwar sind hier keine Halfports gemeint aber Turners Linien-Hinweis inklusive abgerundeter Form für den Regenabweiser zeigen eine geschlossene Stückpforte.
So etwas Unbestimmbares wie den Nelson Touch ins Boot zu holen, birgt die Gefahr, dass man mit dieser Generalvollmacht so ziemlich alles erklären kann.
Hier kommt Peter G. Goodwin ins Spiel mit seinem 2013 online veröffentlichtem Artikel »The Application and Scheme of Paintworks in British Men-of-War in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries«, auf den sich die englische Wikipedia stützt:
Zitat von en.wikipedia.org zu »Nelson Chequer«Nelson benutzte anscheinend dasselbe Schema für alle Schiffe unter seinem Kommando, „um”, mit seinen eigenen Worten, „bei Feindkontakt mit größerer Sicherheit unterschieden werden zu können”.
Und wie dieses »empfohlene« Schema ausieht wird auch gesagt. Die schwarzen Portlids sind plötzlich wieder im Gespräch, nur überraschend anders, dass man sich wundern muss, weshalb diese Variante nicht schon früher harmonisierend in die Debatte einfloss: Nelson bevorzugte Gelb, mit schwarzen Bändern und ließ auch die Unterseite der Pfortendeckel schwarz lackieren. Das bedeutete, dass bei geschlossenen Ports der Rumpf gestreift und beim Öffnen (einsatzbereit) kariert aussah. »Kein Schachbrettmuster« signalisierte über die Entfernung »bedacht«, notwendig besonders, wenn man in bewehrte, befreundete Häfen einfuhr.
In der Causa »Nelson Chequer« erginge nun folgendes Urteil: Ob nah oder fern, rote Deckel-Unterseiten gelten innerhalb des Trafalgar-Flottenverbands ab sofort als unenglisch. Leider wird man in diesem Fall den Gedanken nicht los, die englischen Maler, angefangen bei Pocock, hätten nur halb zugehört und den Clou der Sache nicht erfasst, denn das ist der Nachteil dieser Variante: sie hat nirgends sichtbare Spuren hinterlassen. Mal wieder typisch abstrakt, ein Urteil ohne Indiz.
MailOnline bzw. www.dailymail.co.uk verkündet am 19. März 2014, das Institut Crick-Smith habe mindestens 72 Farbschichten identifiziert, und insbesonders, was den Ockerton betrifft: »… it had been painted a light shade of ochre - a kind of pale, rust colour« - anschaulicher in »Terrakotta-Hell« zu fassen.
Um meinem zukünftigen Aprilscherz einen wirkungsvolleren Anstrich zu geben, hatte ich die Untersuchung der spektakulären Kupferplatte Crick-Smith überlassen, deren Spezialgebiet Analyse und Nachforschung zu historischer Farbgebung ist; die Geschichte mit der Winde ist jedenfalls nicht frei erfunden und beantwortet in diesem Zusammenhang die Frage: wie findet man Farbspuren aus einer bestimmten Zeit auf einem Objekt, das gar kein Material mehr aus dieser Zeit enthält?
Zitat von Ian Crick-SmithOne sample of the ochre paint – "diabolical quality" - came from an old capstan which was once used as a plinth for a bust of Nelson at Windsor Castle.
Bei MailOnline fragt sich ein Leser, weshalb bei Zeitgenossen wie z.B. Turner die Streifen gewohnt goldgelb-orange erscheinen. Ockerfarben, oder ist damit gar gelb gemeint? Ich spreche von diesem Lufthansa-Gelb bei Crépin; aus zeitgenössischen Bildern lässt sich kein eindeutiger Farbton ableiten, und Turner reiht sich in seinem Schlachtengemälde mit seiner Lasurtechnik bei den Klassikern ein, wo aus Dreck Gold wird. Bei seinem Drillings-Portrait ist das genau andersrum, dieser Ockerton mit Olivstich entsteht, wenn man mit schmutzig schwarzem Pinsel ans saubere Gelb geht. Tja, in Fragen der Farbe bringen die Zeichnungen des Nelson-Sketchbooks uns nicht weiter.
Eines würde mich interessieren, bei allen Farbkombinationen wurde bisher als Hauptauswahlkriterium der finanzielle Gesichtspunkt betont. Lichter Ocker: billig. Wunderte mich nicht, wenn der neugefundene Farbton damals ein echtes Schnäppchen war. Schwarz ist übrigens auch nicht mehr schwarz sondern geht in Richtung Anthrazit.
Aber was hätte Schiffsfarbe für einen Sinn, wenn es allein ums Aussehen ginge - Holzschutz ist von Interesse; demnach dürfte »gut und günstig« die kluge Wahl gewesen sein. Ob die Farbe lichtecht ist und über lange Zeit den Ton nicht ändert - wäre es so erstaunlich, wenn irgendwann ein Experte die Farbe, um den geschwundenen Gelbanteil ergänzt, als allerletzten Schrei präsentiert? Aber vermutlich ist Ultimativ-Orange doch etwas zu billig gerechnet.
Ein kurzer Blick auf die Galionsfigur. Bei Turners Skizze kann man m.E. ganz gut die Köpfe zweier Figuren ausmachen. Ihr genaues Aussehen ist nicht bekannt, doch erwähnt Brian Lavery eine Beschreibung der Figuren seitens Fähnrich Rivers. Demnach repräsentierten die Cherubim einen Matrosen und einen Seesoldaten (Matrose, steuerbord, blau. Seesoldat, backbord, rot) - einer Figur auf Turners Skizze müsste der Arm fehlen und der anderen ein Bein.
Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace von Brian Lavery, EAN: 9781612518671, U S NAVAL INST PR, April 2015 - Seite 142
Wahrscheinlich wegen ihres Postens auf dem Schiff, dennoch merkwürdig, waren Rivers zufolge die Opfer auf der Victory, denen ein Arm abgeschossen wurde, vorwiegend Matrosen und diejenigen, welche ein Bein verloren, Seesoldaten.
Ob die Legende Hand und Fuß hat? Im Zuge einer größeren Erneuerung (1814/15) wurde die Gallionsfigur leicht verändert, erwähnt L. G. Carr Laughton, im Wesentlichen in der Beinstellung der weißen Wappenschildhalter - zuvor etwas bodenständiger als in der um 15 £ teureren Neuauflage mit dem ausgeprägten, das Standbein überkreuzenden, Spielbein.
Old Ship Figure-Heads and Sterns, L. G. Carr Laughton, published 1925 by Halton & Truscott Smith, Ltd, London - Seite 89
Hier spricht wieder der Vielzeichner aus Turner, ein kurzes Memo im Nelson Sketchbook hält die Galionsfigur als winziges Detail auf einer eigenen ansonst leeren Seite fest. Viel erfahren wir aber nicht: gekröntes Wappenschild mit Spruchband darunter, eingefasst von zwei Figuren - D.h. wo ist eigentlich die Krone in D05486 geblieben?
Gemeinsam mit den vorigen zwei Skizzen gehört »Starboard View of Bow« in den Komplex der Nahansichten, und ich denke, Turner hat diese drei Skizzen grob und schnell hintereinanderweg gezeichnet. Mit der Entfernung entspannt sich seine Ausdrucksweise wieder, eindeutiger wird sie in der folgenden aber nicht.
Dass Constable und Turner regelrechte Schiffsexperten waren und vertraut mit den Funktionen dessen, was sie zeichneten, nehme ich nicht an. Beide haben aber ihre Darstellungseigenarten entwickelt. Constable scheiterte in der Seitenansicht der Victory, als er sein sicheres Schema verlässt und mit weichem Bleistift konkret zu werden versucht. Turner geht anders vor, und diese Skizze ist ein gutes Beispiel für seine Arbeitsweise.
Auch er zeichnet das Schiff in Seitensicht, bzw. Schrägsicht, aber als Hauptgegenstand des Bild-Hintergrundes. Stellt man die gezeigte »zweite Ölskizze« zu seinem Trafalgar-Gemälde daneben, sieht man die Parallelen, dort sind die Boote durch Schiffbrüchige ausgetauscht, und die Victory bestimmt in wenigen Formandeutungen den Hintergrund. Die Anregung zur Vordergrundgestaltung mag De Loutherbourg gegeben haben, aber sie passt sich fabelhaft in die Turner eigene Gestaltungsmethode ein.
Beim Ablesen der blassen Formhinweise wird ein Schiff draus: die Galionsfigur, der Fockhalsbaum ragt über die obere Galionsregel, Sprietbaum, Klüverbaum, Stampfstock. In der Seitengalerie wird die Ansicht »three-quarter bow on starboard side« eindeutig festgelegt. Im Gegensatz zu Constable, geht Turner äußerst sparsam mit Punkten um - ein paar Geschützpforten-Tupfer, so wie steinzeitliche Künstler mit Rautengittern die bearbeitete Oberfläche zu Fell erklären. Großstag (im oberen Bereich gedoppelt) und Vorstag werden mit starken Blöcken vom Bugspriet gehalten. Masten, Rahen mit festgemachten Segeln, Besangaffel mit Flagge - alles da. Deutlich zwei schwarze Punkte rechts und links. Offensichtlich markante Elemente der Kreuzmasttakelage, und bereits in der gezeigten Detailansicht des Hecks aufgefallen. Sogar eine Linie, die das Schanzkleid ums Poopdeck sichtbar werden lässt.
Eine rätselhafte Form am Fuße des Kreuzmastes, ist es eine Ziffer? Zu einer Sieben passte allerdings der unenglische Mittelstrich nicht (unten rechts ist auf dem Blatt eine handschriftliche Sieben). Deutlich 6, 12, 12 - nur ist das zwischen den beiden Zwölfen ebenfalls eine Ziffer oder auch eher freie Form?
Zitat von tate.org.ukInscribed by Turner in pencil ‘6’, ‘12’, ‘4’ and ‘12’ beneath masts and rigging…
Die Beschreibung legt sich auf ‘4’ fest, aber ergibt das einen Sinn? Bei den anderen Ziffern sähe ich einen, denn sie könnten die Antwort auf eine Frage nach der Zahl der Wanten sein - vorausgesetzt, die Annahme eines reduzierten Jury-Riggs, aus dem der Original-Zustand nicht ablesbar war, erweist sich als richtig. Zumindest wären die Ziffern den Wanten zuzuordnen, während ‘4’ eher zum Boot im Vordergrund in Bezug steht. …Und über der rechten Zwölf noch vier Punkte in der Bedeutung von Mast-Wulingen.
Lebendiges Beispiel für Turners Zeichenstil. Harter Bleistift, mehr oder weniger akzentuierte Linien, selten Schraffuren. Die Aussparungen wirken nicht leer sondern lichtdurchflutet, und keinesfalls verfällt er Constables malerischer Attitüde eines stumpfen oder schräg gehaltenen Stiftes. Einen ganz wesentlichen Unterschied zu Constables Zeichnungen machen die eingestreuten Notizen aus; nicht nur die erwähnten Ziffern, rechts oben ist ein Detail abgebildet und »Topmast« benannt.
Der blasse Farbton verräumlicht die Szenerie, »Smaller Vessels Alongside« triffts nicht, die Fahrzeuge sind Vordergrunddekor und kleben nicht an der Bordwand - bis zum Schiff sinds noch ein paar Meter. Auffällig stark deplatzierter Großmast.
Fischers Fritz ist zu Besuch; sieht müde aus. Von »The Victory Returning from Trafalgar« bis hierher wars anstrengend - und Alles wegen einer Dreiviertel-Bugansicht… Aber sein Weg hat sich gelohnt, endlich das Bild, welches Turner von Schetky leider nicht bestätigt wurde.
Und ein letztes Mal Victory, Victory, Victory. Zu Turners zweiter Ölskizze tritt vermittelnd eine Referenzform…
Klangprobe zum Nachhall der Schlacht…
Die »schwimmende Festung« ist zwar in ein Schiff zurückverwandelt, Entscheidendes geht aber verloren. Turners widersprüchliche Darstellung provoziert. Den Gesetzen des umgebenden Bildraumes nicht untergeordnet, bleibt das Schiff im Schwebezustand, verunsichert den Betrachter, und diese Verunsicherung verleiht ihm die Aura. In der Auflösung des Bildwiderspruchs verschwindet dieser Effekt.
Eine ähnliche Dissonanz ist in der ersten Ölskizze zur Schlacht von Trafalgar zu bemerken: ein Knick.
Da, wo das weiße Band des unteren Batteriedecks endet, wechselt das Schiff unvermittelt den Kurs - der achterne Teil mehr oder weniger in Seitenansicht, während sich der Bug vom Betrachter weg in die Tiefe des Bildraums neigt und auf Parallelkurs zur feuernden Redoutable geht. Am Bauplan, den sich Turner in der Vorbereitungsphase von der Admiralität lieh, lag es bestimmt nicht. Zwar hätte ich gerne gewusst, was er ihm entnahm, die Erwähnung eines Plans scheint mir aber in zunehmenden Maße eine Schutzmaßnahme, um Zweiflern zu begegnen.
Im Übrigen zähle ich vier halbhohe Fender bei der Victory des Trafalgar-Gemäldes, warte aber noch die passende Skizze ab, bevor ich darauf eingehe. Ruder Backbord! Wir gehen über Stag.