Die Zeichnung suche ich gerade in meinen Bücjhern, dachte die wäre aus einem der Ospeys, isses aber scheinbar nicht ...
Hat jemand einen Gedankenblitz?
Hab aber als Ausgleich noch eine weitere Textseite von WR gefunden. Auch wenn die nicht viel weiterhilft, evtl. gibt es da doch mehr digitalisiert als man denkt.
Ich versuche mir einen Reim auf Fähnrich Roberts Zeichnung zu machen und sehe folgende Zusammenhänge.
Zunächst handelt es sich weniger um ein Abbild als vielmehr die stark schematisierte grob bemessene Grundlage für die nebenstehende Erläuterung. Augenmerk liegt auf den Finknetzen, dargestellt ist die Unterkonstruktion, die durch locker übergeworfenes weißes Tuch zu ergänzen ist.
Das Muster der Geschützpforten wirkt wie die sprichwörtliche Übersetzung der Nelson Chequer und dient m.E. als Hinweis; „Hier ist die Bordwand, da verläuft das Fallreep.”; die schwazen Quadrate müssen dabei nicht notwendigerweise geschlossene Pfortendeckel darstellen, denn was offenbar gar keine Rolle spielt, sind die Geschützpforten auf dem Achterdeck und unter der Poop, die werden komplett ignoriert.
Die Formulierung »spread loosely« hat mich an etwas erinnert, das mir beim Vergleich von Turners Deckszeichnung und Wests Gemälde auffiel. Um deutlicher zu werden, stelle ich noch einen Ausschnitt aus dem späteren Panorama von William Heath dazu.
Kann gut sein, dass sich in den Ausschnitten nicht genau das von Fähnrich Roberts Beschriebene zeigt, aber ich kann damit, den Materialkontrast hervorheben. In den Beispielen geht es um die Finknetze der »low hammock cranes« auf den Schanzkleidern von Back und Achterdeck.
Turners Tuch ist weiß und locker übergelegt, West und Heath packen die Hängematten in ein dunkles straff gezogenes, und das stelle ich mir als geteerte Leinwand vor, imprägniert, um die Hängematten trocken zu halten. Das Material wäre aber durch die wasserabweisende Wirkung nicht nur selbst schnell wieder trocken, der Teer ist obendrein durch Funkenflug entflammbar. Deshalb als Kontrastmaterial weiße unbehandelte nasse Leinwand darüber, mit der Eigenschaft, die Feuchtigkeit zu halten.
Das erklärt vielleicht »the others«, aber noch nicht die Linienstruktur in der Zeichnung und den Buttersworth-Bildern. Beplankte Holzplatten können es nicht sein, bei Buttersworth sieht man, dass die leicht geschwungenen horizontalen Linien keiner starren Konstruktion angehören können.
Schwer einzuschätzen ist, ob Roberts und Buttersworth das gleiche meinen. Gehe ich davon aus, stelle ich mir eine geteerte und gitterförmig mit Tauwerk verstärkte Plane vor, welche über die Finknetze gezogen und mit den überstehenden Schnüren dichtgeholt wird, etwa so wie im Bild von William Heath - von horizontalen Verstärkungen bei ihm leider keine Spur. War dergleichen Praxis, oder ist das abwegig?
Ein Google-Snippet; das Buch besitze ich leider nicht…
ZitatHAMMOCK CRANES These first appeared around 1710, and were mainly fitted on smaller ships such as frigates and sloops, their use being limited to the quarterdeck and ... The stanchions, made from wrought iron, took the form of U-shaped brackets, with a single spike at the base, set down into the planksheer. These cranes were then covered with a tarred canvas screen. An example of this form can be seen on ...
The Construction and Fitting of the English Man of War, 1650-1850, Peter G. Goodwin - 1987. Seite 211
ZitatRoeding (1794) hat eine leicht verständliche Beschreibung: „Regelingen sind lange dünne hölzerne Riegel die von Zeit zu Zeit durch hölzerne Stützen getragen werden, die man Finknetzstützen oder Regelingsstützen nennt. Letztere sind auch manchmal von Eisen und beide zusammengenommen bilden ein Geländer um den Bord des Schiffes, welches die Schanzkleidung trägt. Auf Kriegsschiffen sind die Finknetzstützen gewöhnlich von Eisen und doppelt; statt der Regelingen scheert man gern einen Leier (Leiter) von hinlänglich starkem Tauwerk durch ein Loch an ihrem oberen Ende. Vom Leier bis zum Bord wird nach innen und außen ein Netz von dünner Lien befestigt, welches das Finknetz heißt. Zwischen beide werden im Gefecht und bei gutem Wetter zum Auslüften die Hangematten des Schiffsvolks gestauet, die eine Art von Brustwehr machen, welche zuletzt mit einer Schanzkleidung von gemaltem Segeltuch oder bloßer Presenning bedeckt wird.”
Ich habe den Eindruck, die Suche führt zu nichts. Der Weg ist falsch. William Heaths Bild von 1820 ist jedenfalls für den Vergleich nicht wirklich geeignet; genau betrachtet, sind hier Finknetzkästen abgebildet. Geteerte Leinwand lässt sich auch einfacher als Schanzkleidung, Finknetzkleid oder Persenning definieren.
Die Annahme, dass Fähnrich Roberts gezeichnete Strukturen in Buttersworths Gemälde erscheinen, ist m.E. irreführend. Während Roberts durchgängig diese Struktur anwendet, erscheint bei Butterworth eine vergleichbare nur bei den Finknetzen um die Kuhl, die Schanz um die Poop bleibt ausgeschlossen. Ich denke, Roberts Formsprache besteht insgesamt aus Stilisierung. In seiner Beschreibung ist die einzige Besonderheit die Erwähnung einer zusätzlichen weißen Abdeckung.
… Und die Ergänzung der Finknetze um die »low hammock cranes« auf dem Schanzkleid der Back.
Im NMM bin ich auf das Modell der HMS Hastings von 1818 gestoßen - mit runder Back und Finknetzkästen. Die Gangway zur Poop ist durch den abgerundeten Schild des verlängerten Poop-Schanzkleides geschützt, und das ist eine Spielart, die Buttersworth durchgänig zeigt, auch in seiner »Ville de Paris«.
Das Entstehungsdatum der »Ville de Paris« wird zwar vom NMM auf ungefähr 1803 geschätzt, erwähnt wurde das Bild aber erst bei seiner Ausstellung 1812 in der Royal Academy. 1803 ergab sich aus der dargestellten Situation (Cornwallis - Admiral of the Blue); die Gestaltung der Finknetze und Schanzkleider sagt aber etwas anderes - eine Entshungszeit kurz vor der Ausstellung 1812 erscheint mir realistischer.
Die Victory, wie Constable sie zeichnet, mag 1803 ähnlich ausgesehen haben, aber nicht im Detail. In der Heckansicht der Victory endet das Schanzkleid um die Poop jedenfalls nicht in einem Butterworth vergleichbaren abgerundeten Schild, sondern in gerader Kante.
An dieser Stelle korrigiere ich: für ein zeitlich stimmiges Gesamtbild ist Thomas Buttersworth keine Quelle.
An den Finknetzkästen der Hastings ums Achterdeck erkennt man deutlich die bogenförmige Frontseite des Kastens, so sieht es auch bei William Heath aus.
„He, Vorsicht!”. Als nähmen die Rettungsmannschaften der Boote und die sich an Wrackteilen anklammerndenn Seeleute die Gefahr nicht wahr, die da aus dem Gefechtsnebel hervorbricht und auf sie zustürmt.
Ein heftiger Schlagabtausch zweier Kriegsschiffe; das eine ist schnell als Engländer identifiziert; sein Fockmast stürzt mit schlagenden Segeln. Dreidecker. Die große Galionsfigur sagt: Queen Charlotte, 100 Kanonen, das Flaggschiff des Oberkommandierenden der Kanalflotte Admiral Richard Earl Howe, in Verfolgung eines nach beiden Seiten feuernden Zweideckers - zumindest sieht er auf den ersten Blick danach aus.
Die durchlöcherten Marssegel und der Klüver stehen unter Hochspannung und bringen mit den unter großem Winddruck auswehenden Flaggen, diese Spannung ins Bild.
Der Maler Philip James (oder auch Jacques Philippe) de Loutherbourg, hätte das französische Schiff vielleicht deutlicher als Dreidecker kenntlich machen können, dass er das 120-Kanonenschiff Montagne, Flaggschiff des französischen Admirals Louis-Thomas Villaret-Joyeuse, meint, geht aber aus einer Skizze hervor, danach stimmt die in Einzelstudie geprobte Montagne mit der im Gemälde überein, bis auf das obere Batteriedeck, im Gemälde bleibt es undeutlich.
»The Glorious First of June« ist nicht nur als das Gegenüber des nächsten Bildes wichtig; auch erfolgsgeschichtlich lässt sich zwischen diesem Ereignis am 1. Juni 1794 und dem 21. Oktober 1805 ein Bogen spannen - positiv ausgedrückt, denn die von England zum ruhmreichen Sieg stilisierte Schlacht wurde merkwürdigerweise auch von den Franzosen als Erfolg gefeiert; in der Seeschlacht am 13. Prairial, wie der Tag nach dem neuen Kalender hieß, hatten sie zwar einige Kriegschiffe verloren, doch sah man die Schlacht als gelungenes Manöver, um von den 116 Handelsschiffen aus Amerika abzulenken. Tatsächlich lief die Flotte unbeschadet im Hafen von Brest ein und lieferte der bereits hungernden Bevölkerung Getreide.
Aus heutiger Sicht ein eindrucksvolles Meisterwerk De Loutherbourgs. Ehemals Bühnenmaler des Londoner Drury Lane Theaters, war er, als er 1795 dieses Gemälde der Öffentlichkeit vorstellte, über seine Theatertätigkeit hinaus längst ein angesehener Maler und Mitglied der Royal Academy of Arts. Die Schlachtteilnehmer nahmen das Bild damals ganz anders wahr und fühlten sich als unfähig bloßgestellt. Was ist so ruhmreich an einem Sieg, bei dem das gegnerische Flaggschiff bereits auf dem Präsentierteller liegt und dennoch durch die Lappen geht?
Der dramatische Kunstgriff des nahen Nebeneinanders vermittelt zum Ärger Lord Howes nicht den richtigen Eindruck vom Gesamtgeschehen - er musste darin sein unkoordiniertes Durchbrechen der Schlachtlinie verewigt sehen, das ihm die Kritiker als gefährliches Einzelmanöver ankreideten.
Und so stellt sich der »erfolgsgeschichtliche Bogen« in Kürze dar:
Lord Howes Plan, die feindliche Schlachtlinie zu durchbrechen, endete zwar in unkoordiniertem Manöver, barg aber die Idee in sich, welche die Schlacht von Trafalgar erfolgreich entschied.
Waren es Verständigungsschwierigkeiten im Schlachtgetümmel, die am 1. Juni 1794 zum Verlust bereits erbeuteter Schiffe führten, gelang es in der Schlacht von Trafalgar mit sorgfältig geplanten Erkennungsmerkmalen Gleiches zu vermeiden.
In beiden Fällen war Vernichtung das Ziel. Die Vernichtung des Getreidenachschubs misslang, während die Schlacht von Trafalgar gemeinhin als Vernichtung der französisch-spanischen Allianzflotte zu werten ist.
Weniger positiv ausgedrückt, ist deshalb der Glorious First of June im Licht der Schlacht von Trafalgar ein Fehlschlag.
Eine Beobachtung zum Schiffslayout halte ich fest. 1795 malt De Loutherbourg bereits ein Flaggschiff mit Streifen entlang der Pfortengänge - wenn auch ein französisches; es erscheint mir insofern angebracht, den Anstrich der Victory weniger als erneuerndes Moment zu werten, sondern vielmehr als Anpassung an den Kontinental-Trend.
Darüberhinaus lohnt es sich, an dieser Stelle noch eine von De Loutherbourgs Skizzen zum Gemälde einzuschieben, und zwar die lavierte Tuschzeichnung der Queen Charlotte. Im Gemälde bleiben interessante Details undeutlich, die hier ohne aufwändige Nachforschung ein englisches Kriegsschiff aus dem Jahr 1794 dokumentieren, und vielleicht erklärt sich auch De Loutherbourgs dichtes Nebeneinander der Schiffe aus der Vorarbeit. Demnach bestand der Kunstgriff darin, den Ausschnitt der Queen Charlotte und die Ansicht der Montagne möglichst unverändert ins Gemälde zu übertragen.
Vergleichbar mit Constables Skizzen, aber wesentlich entschiedener und deutlicher angewandt, haben wir es hier mit dem Portrait eines Schiffes zu tun, das unseren an der Fotografie orientierten Maßstäben gerecht wird.
Als Erstes bestätigt die Zeichnung das wegen der großen Galionsfigur verkürzte untere Galionssims; Die Holzverschalung über der oberen Galionsregel bei Buttersworths Ville de Paris ist 1803 offensichtlich keine Besonderheit, wenn sie sich bereits neun Jahre zuvor bei der Queen Charlotte etabliert hat.
De Loutherbourg arbeitet einige Details aus der Bleistiftvorzeichnung heraus, bemerkenswert der unvollständige fünfte Galionsspant, der mit einer Zeichnungen des Galions übereinstimmt und auch an einem zeitgenössischen Rumpfmodell der Queen Charlotte im NMM zu finden ist.
Exemplarisch sind zwei Rüsteisen aus der Vorzeichnung in Tusche umgewandelt. Insgesamt recht stimmig in der Wirkung, zeigt ein Blick aufs Modell, dass einige Skizzen-Details etwas verrutscht sind. So müssten die Rüsteisen tiefer am Rumpf angeschlagen sein, und einer Aufteilung, in der ein direktes Nebeneinander in dieser Form existiert, widerspricht das Modell. In Skizze und Gemälde ist die Ankerscheuer vorhanden, technisch müsste sie im Modell vorn unter dem Rüstbrett bis zu dessen Außenkante eingepasst werden, diese Verbindung ist in der Skizze aber im Unklaren gelassen, zudem ist der Abstand zwischen der Lüftungspforte mit den fensterladenartigen Halfports und dem unvollständigen Galionsspant hier wesentlich kleiner.
Aus der Zeichnung geht die Beschaffenheit des Bordwandabschlusses an der Back nicht hervor, vermutlich Timberheads, die bleiben aber unter einer Persenning verborgen; die Girlandenstruktur an der Vorderseite der Back hingegen ist ein Zierelement, das Modell und Zeichnung eindeutig gemein haben.
Eine Besonderheit unterhalb des halbrunden Toilettenhäuschens; hinter den Ankerklüsen, bzw. den Schloiknien, werden Rohrleitungen vorbeigeführt. Das dürften Abflussrohre sein - im Gemälde zu vermuten, in der Zeichnung klar, auf jedenfall ungewöhnlich in der Darstellung.
Wie ja bereits bemerkt, erfüllt die Historienmalerei unseren Wunsch nach realistischem Abbild nicht, und wir finden in zeitgenössischen Schiffs-Darstellung kaum etwas, das in unserer Vorstellung zum echten Portrait wird. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist De Loutherbourgs Queen Charlotte außergewöhnlich - Skizze und Gemälde sind gut in Modell und Plan wiederzuerkennen.
An anderer Stelle habe ich schon ein Mal die Vermutung geäußert, dass das Abflussrohr nur eine Einrichtung während der "Off-Zeiten" im Hafen ist, da ja die "automatische Seespülung" fehlt. HAt es dann auch aufs Hochseebild geschafft.
Die abgerundeten Schild des verlängerten Poop-Schanzkleides ist auch schon früher nachweisbar, suche ich noch raus. Auch die Holzverschalung über der oberen Galionsregel ist bei einigen Trafakgar-Zeichnungen von Livesay zu sehen.
dafi
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Bildschirmfoto 2018-08-22
Gibt es für Serres' Abbildung einen Vergleich? Die Linie der hervorschauenden Hängematten bzw. der darüber gezogenen Persenning ist über die Vorderkante der Schanz geführt, technisch ist die Darstellung nicht klar. Betrachtet man die dargestellten Menschen, fällt die Konstruktion für ein Schanzkleid insgesamt sehr niedrig aus; bei West sind die Finknetze im vorderen Bereich der Poop schulterhoch, und im ebenfalls erwähnten zweiten Bild der »Ville de Paris« stellt Buttersworth die Größenverhältnisse nicht anders dar.
Ist das bei Serres wirklich der in Rede stehende Schild? Beim Beispiel HMS Hastings endet der Finknetzkasten an der Deckskante der Poop und das Schanzkleid wird schildartig neben der Gangway weitergeführt, bei Turners Deckszeichnung sind die Finknetze ähnlich klar begrenzt - ohne den Schutzschild; entsprechend Constables Zeichnung.
Bei Butterworths »Ville de Paris« gehe ich jedenfalls von einer späteren Entstehungszeit aus, weil das Bild erstmals zum Ausstellungsdatum 1812 erwähnt wird und das NMM sich zudem sehr vorsichtig ausdrückt: »this painting was probably made in 1803«. 1803 schlussgefolgert aus der dargestellten Szene, aber bei Butterworth gibt es für eindeutige Bilddatierungen keine Beweise - das frühe »HMS Victory off Belem Castle« - »Signed by artist and dated - 1797« ist ein Sonderfall und keinesfalls typisch.
P.s.: Wegen der Abflussrohre, ob hochseetauglich oder nicht, spielt hier m.E. nicht die entscheidende Rolle. Das Besondere ist wie gesagt, dass De Loutherbourg seine Skizze direkt ins Gemälde übernimmt - und ich mache auch wegen des folgenden Bild-Pendants darauf aufmerksam.
Mein Blick fällt sofort auf ein gigantisches Schiff. Wieder stürzt ein Fockmast, und die Takelage ist in Unordnung. Wilde Wolkenformationen setzen die Unruhe des aufgebauschten Segeltuchs fort, verstärkt durch kontrastreiches Hell-Dunkel. Unentschiedene Wetterlage, sonnenbeschienene Wolken vor leuchtend blauem Himmel stehen düster schwarz-blauen Flecken gegenüber. Die gestreifte Bordwand mit den ausgerannten Geschützen ist in Licht und Schatten getaucht, und passend zu den Gestaltungs-Extremen wirkt die ansonsten nur als dunkle Masse wahrzunehmende See ums Schiff wie vom Blitz getroffen. Das einzig Auffällige neben diesem Schiff im Zentrum sind die Schiffbrüchigen im Bildvordergrund. Insgesamt scheint die See ruhig, nur hier nicht. Ein toter Seemann und der Mann hinter ihm, an den Mast geklammert, werden durch starke Dünung bewegt. Unvermittelt ein Boot mittendrin. Englische Seeleute, sagt der Union-Jack, doch was ist mit der Flagge, hängt sie über eine Tischkante, oder weshalb ist da kein Wasserkontakt?
Das Bild macht nervös, und ich frage mich, woran ich die unnatürliche Wirkung, die von ihm ausgeht, festmachen soll. Tatsächlich gibt es viele Ursachen. Merkwürdig ist z.B., dass eine Seeschlacht im Gange ist, von der ich wenig mitbekomme. Andere Schiffe sind in unauffälligen Fragmenten versteckt, und über eines, das relativ groß auf der rechten Seite lauert, stolpere ich fast im Formdunkel; unscheinbar und schwer zu greifen, sinkt es, bevor ich es als Schiff erkenne. Weshalb brechen die Notleidenden in Jubel aus? Die Geste hochgerissener Arme ist unmissverständlich, aber gibt ein Eigentor Anlass zur Freude? Es ist doch ein englischer Fockmast, der gerade über Bord geht.
1822, Napoleons Abdankung nach Waterloo liegt sieben Jahre zurück, gibt George IV die Schlacht von Trafalgar bei James Mallord William Turner in Auftrag. 1824 liefert Turner und erntet dafür die wohl schlimmste Kritik seines erfolgreichen Künstlerlebens.
Das Format von 2,6 mal 3,7 Metern ist durch De Loutherbourgs Gemälde vorgegeben, aber auch sonst macht Turner Anleihen beim von ihm geschätzten Meister; insbesondere beim Bildvordergrund, doch ungleich theatralischer in der Inszenierung. Stand De Loutherbourgs Rettungsaktion in spannendem Kontrast zum sich nähernden Zweikampf im Hintergrund, wird bei Turner eine seltsame Jubelszene daraus, zumindest ist diese Euphorie wie gesagt nicht auf Anhieb einleuchtend; doch so schnell ist man mit diesem ausgeklügelten Symbolbaukasten nicht fertig.
Im Fokus steht bildbeherrschend die Victory. Das sinkende Schiff rechts - wir erinnern uns an Crépins Darstellung der Redoutable - hier wird sie zum unsachlichen Beiwerk, denn gesunken ist sie erst im auf die Schlacht folgenden Sturm. Bei Crépin markierte das ins Wasser hängende White Ensign den Wermutstropfen des Sieges, bei Turner ist es die Englandflagge am fallenden Fockmast.
Ein beschädigtes Finknetz gibt den Blick aufs Achterdeck der Victory frei, ohne dass man Genaueres erkennen kann. Feuerschein im Hintergrund markiert die Stelle, an welcher der Admiral niedergeschossen wurde. Der Sieg im Moment des Todes wird darüberhinaus nicht nur vom Jubel begleitet, die bunten Flaggen am Großmast bilden das Signalfragment »uty«. Turner spielt damit auf das Wort Duty an und fasst darin das berühmte Signal zu Beginn der Schlacht »England expects that every man will do his duty« mit den Worten des sterbenden Nelson »Thank God I have done my duty« zusammen.
Der Union-Jack im Segelgewusel des Fockmastes zeigt, dass Turner das Erkennungszeichen am Vorbramstengestag recherchiert hat. Mit dem Flaggensignal gibt es aber ein Problem, auf das ich hier schon mal hingewiesen hatte.
The Battle of Trafalgar von Geoffrey Bennett, Pen and Sword, 30.09.2004 - 256 Seiten, S.164
Geoffrey Bennett erklährt, dass generell die Darstellung der Trafalgar Signale einem Codebuch der Admiralität von 1799 folgen, der Signalcode aber wegen eines 15 Monate zurückliegenden Ereignisses nicht mehr galt, bei dem, mit der Eroberung des Schoners Redbridge vor Toulon, den Franzosen ein privat angefertigtes Signalbuch des Kommandanten in die Hände gefallen sein musste. Zumindest erklährte das, weshalb die französische Marine den Signalcode bei einem Täuschungsversuch mit dem erbeuteten Schiff richtig einzusetzen wusste. Für den Zeitraum der Schlacht galt ein Codebuch, das vom 16. Januar 1804 bis Ende 1810 aktuell war.
Dominierendes Bildthema ist der Sieg. Nicht etwa wie bei Pocock in Form des Schiffsnamens dem Betrachter genannt, Turner stellt einfach das Schiff ins Zentrum des Bildes. Und jetzt scheint die Begeisterung der Schiffbrüchigen eine Spur verständlicher, nicht dem Schiff, sondern dem strahlenden Sieg gilt der Jubel.
Anders als in Historienbildern wie »Das Heer Hannibals überquert die Alpen bei einem Schneesturm« drängt Turner die thematisierten Gegenstände nicht durch Miniaturisierung aus dem Bild. „Das Ende der Welt, Mr. Turner?”, bei der Schlacht von Trafalgar bestimmt keine Frage. Mit dem Fokus auf die Victory neigt das Bild zum gegenteiligen Extrem. Turner macht die Victory zum Star, zumindest findet man kein anderes Gemälde, in dem sie derartig das Bild beherrscht. Was aber gab den Anlass zur heftigen Kritik an diesem Werk?
Wie schon bei De Loutherbourg äußerten besonders diejenigen ihr Missfallen, die an der Schlacht beteiligt waren, allen voran Sir Thomas Masterman Hardy, Nelsons Flaggkapitän und Kommandant der Victory. Es wurde nicht nur der Anachronismus der dargestellten Ereignisse kritisiert, ebenso Symbolüberfrachtung bzw. Vieldeutigkeit, wenn im Wasser neben einem toten Seemann der Wahlspruch Nelsons durchschimmert: »Palmam, qui meruit, ferat«. Bedeutet das anstatt »die Siegespalme erhalte, wer sie verdient hat« der Preis des Sieges ist der Tod? Noch schwerwiegender waren technische Fehler. So erscheint das Schiff hoffnungslos überdimensioniert.
Die letzen elf Tage nach Hängung, in denen Turner vor Ort abschließend am Gemälde arbeitete, müssen sehr anstrengend für ihn gewesen sein. Alle Nase lang kam ein Fachmann vorbei und fand einen neuen Fehler, den es zu beheben galt.
Das Schiff liege zu hoch im Wasser - wie das wohl vor der Korrektur ausgesehen haben mag?
Um den Missstand zu kaschieren, soll Turner den Meeresspiegel im Bild angehoben haben. Gemeint ist wohl die Wasserlinie der Victory, denn Horizont und Meeresspiegel sind in diesem Bild kaum auszumachen, und diese Veränderung ist mit ein Grund, weshalb die Präsenz des Schiffes in zunehmendem Maße unnatürlich wird.
Angenommen ein Fachmann konnte Turner überzeugen, er habe sich geirrt, die echte Victory sei ein Zweidecker gewesen…
Der Wasserspiegel steigt und steigt - ein Mega-Zweidecker.
Durch die Korrektur rückt das überdimensionierte Schiff noch ein Stückchen vom Vordergrund ab - und in dieser Anleihe De Loutherbourgs liegt meiner Meinung nach ein weiteres Problem. Entfernen wir ihn, und konzentrieren uns auf einen Bildausschnitt ohne stöhrendes Beiwerk, wird das klar.
Nahezu Froschperspektive. Wäre Turner von diesem Auschnitt ausgegangen, man hätte das Schiff wegen der vielen Personen im Vordergrund nicht so deutlich erkannt, denn die Verschiebung der Wasserlinie noch oben bedeutet gleichzeitig eine Senkung des Augpunktes.
Wir haben freie Sicht aufs Schiff, weil der bevölkerte Vordergrund nicht mitzieht; er klappt nach unten und hebelt damit die Victory aus dem Wasser. Das zumindest wäre ein Gedanke zum Bild, der etwas von der verunsichernden Wirkung erklärt.
Doch jetzt, bei diesem Ausschnitt, erreicht die Darstellungs-Kritik erst das Schiff, denn im unteren Batteriedeck fehlt eine Geschützpforte; wie hätte Turner sie auch noch ins Bild quetschen können? Im vorderen Teil des Rumpfes sind die Abstände viel zu großzügig gewählt. Dieser Formstau am Heck verändert den Schiffskörper vollständig, zusätzlich ungeschickt zum Schattenwurf der Rüsten, der vom starken Sonnenscheinwerfer verursacht wird. Es soll ein langgestreckter Schiffsrumpf sein, zu sehen ist aber ein tortenähnliches Gebilde - die vorderen Pforten sind fast frontal ausgerichtet, die achternen stark seitlich; so sieht es aus, nimmt man den Begriff »schwimmende Festung« wörtlich.
Außer der fehlenden Stückpforte, hat diese falsche Physis noch einen ganz anderen Effekt: das Fallreep ist viel zu weit vorn. Anstatt nach der neunten müsste es nach der siebten Pforte des Mitteldecks (von hinten gezählt) an der Bordwand nach unten führen; und vorn erzeugt dieses Body-Stretching einen gleichwertigen Fehler. Eine Pforte vor den Fockrüsten und zwei darunter, so wäre es richtig. Turner verschenkt so viel Platz, dass eine einzige Geschützpforte den Platz von dreien besetzt. Ob die vielen Verbesserungsvorschläge der im Vorübergehen begutachtenden Fachmänner einen schlechten Einfluss auf das Gemälde hatten oder nicht, dieser fehlerhafte Schiffskörper kam nicht durch späte Korrekturen zustande.
Zu den Stückpforten, finde ich noch eine Besonderheit in Turners Darstellung; im oberen Batteriedeck erscheint kein einziger Lukendeckel. Hat er das am Schiff gesehen oder an einem Modell - am Vollrumpfmodell sind auch nur die unteren beiden Pfortengänge zu verschließen; und es bildet in dieser Ausführung keineswegs die Ausnahme.
Unser Augenmerk gilt Bug und Galion; diese Unentschiedenheit der Form, keine der beschriebenen Varianten trifft zu. Vier Galionssimse und fünf Galionsspanten. Im Vergleich zu De Loutherbourgs Galion der Queen Charlotte, wirkt die Gestaltung des Bugbereiches unbestimmt, fast schwammig, besieht man den Bereich vor dem mit Segeltuch verhüllten Kranbalken. Den Übergang der zweiten Galionsregel zur Drückerkonsole, hatte ich ja schon als schwierig darzustellen erwähnt, Turner geht nicht darauf ein; wie wir sehen werden, fällt die Gestaltung eines Galions bei ihm bisweilen recht kreativ aus.
Hat sich De Loutherbourg detaillierte Vorlagen für seine Schiffe geschaffen, die er direkt auf das Gemälde anwendet, merkt man Turners Bild an, dass Entsprechendes fehlt. De Loutherbourg machte im Hafen von Portsmouth seine Schiffsstudien kurz nach der Schlacht, 1822 gab es zum 17 Jahre zurückliegenden Ereignis nichts Entsprechendes mehr.
Überhaupt merkt man kaum etwas von Turners Quellstudium zur Schiffsgestaltung, so gelang es ihm offenbar nicht mithilfe des ihm zur Verfügung stehenden Bauplans den Schiffskörper richtig darzustellen.