Wobei Turners Schiff die zweite, englisch gebaute Temeraire von 1798 ist. Die - ursprüngliche und namensgebende - Téméraire(fr)/Temeraire(en) - von 1759 wurde schon 1784 wieder von der RN verkauft und wahrscheinlich kurz darauf abgewrackt.
Wunderbares Thema, eine Freude, danke. Die "klassische" Periode von Turner hatte ich so noch gar nicht auf dem Schirm. Wie bei vielen großen Künstlern, wird sie doch von seinem Spätwerk - hier sein Pre-Impressionismus - übertönt. Aber gerade dieser Schritt, sich von den klassischen Wurzeln zu lösen und in diese expressive Phase zu kommen, in der er Perspektive, Raum und Erzähltes der Gesamtkomposition unterordnet, war sein Problem mit den engstirnigen Zeitgenossen, und ist das, was uns heute an ihm besonders erfreut :-)
Als Ergänzung zu deiner Unterscheidung: In Crépins Gemälde sieht man Thornburys Mehrfach-Irrtum (auch die Schiffsklasse betreffend) quasi in Gegenüberstellung.
Crépins Trafalgar-Bild mit der Sandwich ist ja auch ein Dauerrenner der historischen Genauigkeit, war halt Franzose und hat die Details gut verdrängt ;-)
Sandwich at Trafalgar.png - Bild entfernt (keine Rechte)
Um mich gemächlich wieder dem Topic zu nähern, wieder mal etwas zu Turner :) Stolpert man bei tate.org.uk durch sein Frühwerk, sieht man nicht nur die klarsten Abbildungen marinen Inhaltes, man stößt auch auf ein Phänomen, das Parallelen in der Kunstgeschichte hat: Am Anfang waren's zwei.
Eine Jugendfreundschaft und Zusammenarbeit, in der beide Maler ihr Talent entwickeln, und zwar so, dass es Schwierigkeiten bereitet ihre Bilder auseinanderzuhalten - bis Girtin überraschend im Alter von 27 Jahren stirbt. Sein Verdienst war es, die Wasserfarbe hoffähig gemacht zu machen, die zu Turners unumstrittener Spezial-Diszipin wurde. Fast zeitgleich in Frankreich etwas Vergleichbares bei den jungen Wilden aus der Romantiker-Ecke: Théodore Géricault (1791 - 1824) und Eugène Delacroix (1798 - 1863).
Und wenn man den Faden noch etwas weiter in die Vergangenheit spinnen will, endet man beim Renaissance-Gespann Giorgione (1478 - 1510) und Tizian (?1488 - 1576), deren Werke auch große Unterscheidungsschwierigkeiten bereiten. Tja, und ein bisschen ist es in der Moderne so mit Georges Braque und Pablo Picasso (… Nein, Braque starb erst im Alter von 81, und Kettenraucher Picasso wurde bekanntermaßen 91).
Die »größere Großskizze« habe ich nicht bewusst an zweite Stelle gerückt, das hat sie selbst getan - das beste Beispiel für Zeichnungen, die schüchtern im Hintergrund bleiben wollen. Mit ihr anzufangen hätte natürlich den Vorteil, dass man gleichzeitig die ursprüngliche Qualität beider Deckszeichnungen hautnah zu spüren bekommt, aber man muss dann so viel über Dinge reden, die man nicht sieht.
Farbe hilft.
Was zunächst klar wird: der Betrachter steht auf dem Hüttendeck, aber so richtig wohl fühlt er sich trotz winterlich mildem Wetter nicht. Irgendwie macht ihm die übertriebene Steuerbord-Hälfte zu schaffen. Das Einblenden der Farbe alarmiert: »Mission to Mars« ist gefährdet - die Großrüsten zielen vorbei. Der schmale Gang um die Kuhl ufert zum Boulevard aus, auf dem sich Schiffstouristen verlieren. Vorne rechts versucht sich jemand abzusetzen - vergebliche Suche nach dem Netz.
Ich schaffe es nicht, die Linien der Decksplanken, angefangen beim Decksvorsprung der Gangway, in einen vernünftigen Verlauf zu bringen.
Wir sehen Groß- und Fockmast, sowie den Bugspriet. Das Kreuz-Stag-Segel ist angeschlagen und am Großmast geborgen. Über der Kuhl liegen Gegenstände auf einer Persenning ausgebreitet - sie deckt die Kuhl nicht vollständig ab, deshalb schauen rechts an den Rändern die massigen Querbalken über der Kuhl hervor.
Räumlich ist der sichtbare Teil des Hüttendecks unklar. Kein Einklang zwischen der Treppenplattform an Backbord und der steuerbordseitigen. Das Fehlen einiger Elemente. Die Großrah. Wo ist die Reling mit den Drehbassen? Nur der Sockel ist angedeutet - und wurde auch schon zum Vergleich herangezogen.
Ursprünglich war ich der Ansicht, Turner erzähle hier noch keine Geschichte, ein Blick nach links hat mich eines Besseren belehrt; aber keine Angst, ich erzähle nicht Turners Geschichte, ich erzähl eine andere…
Es ging mir eigentlich darum, herauszufinden, ob sich die Frage nach der Anzahl der Geschützpforten auf dem hinteren Decksabschnitt mit dieser Skizze klären ließe; deshalb der Ausschnitt. Wie auch auf der mit Blick in die entgegengesetzte Richtung, zeigt Turner zwei Pforten vor der Treppe im Bildausschnitt.
Die verwaiste Pforte im Gemälde liegt aber noch etwas weiter vorn hinter den Großrüsten, sodass die Anordnung an D05487 Port Side, Smaller Vessels Alongside erinnert, wo es insgesamt drei quadratische Öffnungen am unüberdachten Teil der Schanz ums Achterdeck sind.
„Hilde schau mal, hier ist er an Bord gekommen.“ „Schau mal hier, schau mal da. Was soll ich denn sehen? Etwa das Gelumpe am Pupsdeck? Sieht ja porno aus. Sag mir mal, wo da oben und unten ist. Macht mich seekrank.“ „Das heißt Poop-Deck und davon wird man nicht seekrank.“ „Ich schon!“
Tja, jetzt seh ich's auch. Aus entgegengesetzter Richtung betrachtet, war da nichts Ungewöhnliches, wieso macht Turner das?
Dieser unentschiedene Übergang der Treppenplattform zur Vorderkante der Poop. Auf Turners Laufsteg finden 10 Männer Platz und locker noch mehr, in Wests Bild, zum Vergleich, sind es zwei. Die gezackte Linie sieht merkwürdig technisch aus. Ein Aufriss. Turner zeichnet etwas, das von seinem Standpunkt aus nicht zu sehen ist, etwas unter dem Deck, eine Skizze in der Skizze.
Ein Geschütz, kein gesehenes. Die Idee einer Kanone unter der Treppenplattform ging dem Zeichner nicht aus dem Sinn. Beim Anblick der Geschützpforte versucht er sich eine genaue Vorstellung zu machen, wie er diese Situation nutzen kann. Anmerkung in Form einer technischen Skizze - ein regelrechter Aufriss ist es allerdings nicht, denn Turner verändert die Architektur des Schiffes zugunsten seiner Idee; die Vorderkante des Hüttendecks wird durch die Offenlegung des Details weit nach hinten verschoben; der architektonisch stimmigere Verlauf setzte links etwas hinter der Finknetzform an, ergäbe aber dennoch ein schiefes Bild. Turner vermeidet im Gemälde geschickt den Eindruck der Asymmetrie durch eine synchrone Menschenmenge auf der rechten Seite. Falsch aber konsequent verbirgt sich auch hier ein Laufsteg unter den Rotröcken.
Das feuernde Geschütz direkt unter dem Gedränge auf dem Laufsteg. Regisseur Turner quetscht das Element aus der frühen Skizze in die Menschentraube. Die Aufrisskante mit zwei Männern kaschiert, die an einer Flagge zerren. Keine Trikolore, die Bedeutung dieser Signalflagge ist geklärt, sie gehört zu Turners »Signal for close action« (richtiger: Closer Action), ein Teil des Signals, das später in seinem Trafalgar-Bild von 1824 im Kreuzmast ausweht, und West signalisiert im Übrigen Selbiges.
@Dubz Danke fürs Interesse - mit Adobe Photoshop, Illustrator und Geduld. Es gibt Einiges, bei dem die endgültige Version noch nicht feststeht, und deshalb habe ich mich hier im Forum angemeldet.
Auch wenn Conover für die Rekonstruktion nach meinem Erachten falsch benamte Modelle des NMM herangezogen hat (Falsch zugeordnete Victory-Modelle im NMM?), so sind doch einige Dinge, die er in die Turnerzeichnungen interpretiert, interessant. Auch wenn ich bei vielem nicht folgen kann oder auch will, es sind einige Hinweise sind beachtenswert, so die Fischungen des Großmastes über dem Stagsegel. Schön auf alle Fälle zu sehen, die Gangways auf gleicher Höhe wie das Hüttendeck und die viel weiter als heute vorgezogenen Finknetzgestelle der Hängematten. Dies geht auch kongruent mit den Modellen, die um diesen Zeitpunkt endlich wieder erstellt wurden. Das Schott und die Schanz am Bug mit den beiden Öffnungen ist auch interessant, wobei dies nicht Trafalgarcondition sein muss, da dieser Bereich extrem schwer beschädigt wurde. Zeitgenössische Modelle zeigen noch einfacher gebaute Relings.
ein sehr interessanter thread - vielen Dank dafür ! Ich bin sehr gespannt, was da noch alles ans Tageslicht kommt. Mir gefallen Deine Ausführungen und Zeichnungen sehr gut, weiter so !
@dafi wow, danke für das PDF, ich habe auf die Schnelle so eine Art Verwandschaft entdeckt. Ich lasse mir noch ein paar Beiträge Zeit, bevor ich mich bei der »Turner Mystery Tour« mit ins Boot setze, ferner möchte ich noch von meiner Bootsfahrt mit Constable berichten, und es gibt noch andere Themen, die du schon angesprochen hast, wie: Modell, Baupläne, Livesay… Ziel ist der Bauplan; ich meine den, den John Henslow verschludert hat. Der läuft dann unter: Ich backe mir den Victory-Kuchen - Hm's Victory! (aber nicht die gehackte Marmorkuchen-Version von Dr. Oetker, sondern die mit Marzipan-Segeln :)
P.s.: Interessant, bei Front- und Heckansich ist Conover auf der Caledonia-Spur.
Zwischen James De Maria, vorwiegend Bühnenmaler, der aber ebenfalls in der Landschaftsmalerei Talent bewies, und Turner entspann sich 1813 ein Gespräch, das die Frage umkreiste, ob man Dinge darstellen solle, die dem Auge nicht erkennbar sind. In Betrachtung eines 74-Kanonenschiffes wandte De Maria sich an Turner, es sei bildwichtig, die Geschützpforten darzustellen, auch wenn man sie definitiv nicht erkennen kann, weil man sich ihres Vorhandenseins bewusst sei. Turner widersprach: „Wir können nur darstellen was zu sehen ist, ob es existiert, darauf kommt es nicht an. Da sind Leute im Schiff - wir sehen sie nicht durch die Beplankung.“ Britannia’s Palette: The Arts of Naval Victory, 1944, von Nicholas Tracy - Seite 299-300
Eine Kanone - ich sehe was, was du nicht siehst? Nicholas Tracy fügt dieser von Cyrus Reding dokumentierten Begegnung eine Bemerkung John Ruskins an, Turner habe nie etwas gezeichnet, was sichtbar sei, ohne es selbst gesehen zu haben. Eine sibyllinische Antwort auf eine nicht gestellte Frage, schließlich geht es im Gespräch um nicht Sichtbares; und zwar unsichtbar wegen zu großer Entfernung, sowie nicht sichtbar, weil im Schiffsinneren verborgen.
Turners Bemerkung beweist, dass ihn keine Grundsätze davon abhielten, seine Skizzen um schriftliche und gezeichnete Notizen zu erweitern. Die Kanone ist zwar nur die Skizzen-Notiz von etwas nicht Vorhandenem, bemerkenswerterweise ragt sie aber in der Endfassung des Bildes raumumgestaltend ins Sichtbare. Turner zeigt, dass er hier keine Unterschiede bei der Bewertung von Skizzendetails macht, in seiner Bildwirklichkeit lässt er Phantasie Raum.
Meiner Ansicht nach zeichnet er zunächst von der Poop-Reling aus, nutzt diese vielleicht als Auflage eines Zeichenbretts, und baut von diesem Blickwinkel das Geschütz in seine Vorstellung ein, um daraufhin den Standpunkt weiter nach achtern zu verlagern, in der Absicht, zusätzlichen Bildraum zu gewinnen…
P.s.: Geschützpforten, die nicht zu erkennen sind. Damit meinte De Maria gewiss geschlossene Pforten. Passt dieser Gedanke zu schwarzen Quadraten auf hellem Grund? Natürlich nicht. Aber damit ist nichts bewiesen, denn was diese Geschichte wirklich aussagt: Schiffe konnten anders aussehen, und die marine Welt war auch bestimmt nicht überall gestreift. Zu den Nelson Chequern gibt es übrigens eine einleuchtende (und irgendwie sehr diplomatische) Erklärung von Peter G. Goodwin in seinem 2013 online veröffentlichtem Artikel »The Application and Scheme of Paintworks in British Men-of-War in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries«, auf den sich die englische Wikipedia stützt, aber das wäre hier jetzt gefährlich off topic - Schwarzmalern wird sie gefallen :)