Ich denke irgendwie an den Tasmanischen Tiger und die verpasste Gelegenheit, mich vor dem letzten seiner Art ablichten zu können - und dass ich nicht der einzige bin, bezeugt flickr.com. Viele ergreifen diese Gelegenheit, um nach England in den Historic-Dockyard-Zoo von Portsmouth zu pilgern. Der Lockruf des schwarz-gelben Tigers dringt weit.
Was die Victory ausmacht, ist nicht allein der Reiz des lebenden Fossils, als Denkmal ist sie dauerhaft mit einem Tag im Jahr 1805 verbunden: der 21. Oktober ist Trafalgar Day. Gefeiert wird die Erinnerung an die schicksalhafte Seeschlacht vor der südspanischen Atlantikküste, irgendwo zwischen der Hafenstadt Cádiz und dem Kap Trafalgar.
Schicksalhaft in mehrfacher Beziehung. Zunächst wegen der Rettung Englands vor einer unmittelbar bevorstehenden Invasion durch napoleonische Truppen, deren Erfolgsaussichten die Zerschlagung der alliierten französisch-spanischen Flotte vereitelte, tragisch, weil der Sieg Englands den Tod Admiral Nelsons kostete, und langfristig, weil der Ausgang der Schlacht eine hundert Jahre andauernde Seeherrschaft begründete.
Der Schrecken zweier Weltkriege hat das Ereignis aus den Köpfen der Menschen verdrängt, doch als 2005, anlässlich seiner zweihundertsten Wiederkehr, der Trafalgar Day zum großem Festakt wurde, versammelte sich im einstigen Flaggschiff die Aufmerksamkeit der Welt.
Ein Selfie vor HMS Victory; ich und das Original von 1805?
Bei einem Päckchen Fertigsuppe kann man davon ausgehen, dass kein Huhn drin ist, wenn »Hühnersuppe« draufsteht. Nicht ganz so ist es bei der Victory; in Spurenelementen enthalten. Sicherlich übertrieben, nur geht es beim Trafalgar-Look nicht um den verbliebenen Materialanteil des Originals, sondern das Erscheinungsbild, bzw. das rekonstruierte Äußere zum fraglichen Zeitpunkt, und da ist Spurensuche durchaus angesagt - besonders die jüngsten Restaurierungsarbeiten zeigen, dass es diesbezüglich kein gesichertes Bild gibt.
Als man das Schiff 1922 ins Trockendock zu seinem endgültigen Liegeplatz verlegte, hatte es in den verstrichenen 117 Jahren, den sich verändernden Prinzipien des Schiffbaus folgend, einige Gestaltwandlungen durchgemacht und ein vollkommen anderes Gesicht bekommen.
1903 gab es diesen Unfall im Hafen von Portsmouth. Die Kollision mit dem zum Abwracken bestimmten Panzerschiff HMS Neptune brachte die Victory damals fast zum Sinken und rückte nach Jahren des Desinteresses den schlechten Zustand des Schiffes ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, zumal sich der hundertste Jahrestag der Schlacht von Trafalgar näherte. Die Intervention König Edward VII bewahrte das Schiff kurzfristig vor Schlimmerem, doch der Zahn der Zeit nagte beharrlich weiter, und 1910, als zum Erhalt der Victory die Society for Nautical Research gegründet wurde, waren die Zukunftsaussichten des Schiffes schlechter denn je, da die Admiralität keine Mittel für dieses Vorhaben zur Verfügung stellen wollte und bei Investitionen die Modernisierung der Flotte priorisierte. Mit gekürzten Masten und wenig Tiefgang wirkte das Schiff in dieser Zeit so plump, dass der Schriftsteller Frank H. Mason in seinem 1911 veröffentlichtem »Book of British Ships« in dem, was von der Victory noch übrig war, nichts weniger als eine Beleidigung sieht.
Keine finanzielle Unterstützung durch die Admiralität, auch nicht, als im ersten Weltkrieg die durch die Victory symbolisierte Seeherrschaft in Gefahr gerät.
Das Sinken im Hafenbecken von Portsmouth konnte die Society for Nautical Research gerade noch verhindern. Über den Reeder Sir James Caird gelang es ihr 50000 £ aufzubringen, und damit Regierung und Admiralität 1922 zum entscheidenden Schritt in der Erhaltung des Schiffes zu bewegen: der Verlegung ins Trockendock Nummer 2 in Portsmouth. Und dort ist es auch heute noch innerhalb eines Hafenbereiches zu besichtigen, der, mit der Zeit erweitert, als »Historic Dockyard« bezeichnet wird.
Innerhalb von sechs Jahren erfolgte damals der Rückbau zu dem Erscheinungsbild, welches das Aussehen des Schiffes zur Zeit der Schlacht von Trafalgar konservieren soll. Doch von Zeit zu Zeit läuft das Haltbarkeitsdatum der Konserve ab, vor allem wenn sich neue Erkenntnisse ins Bild mischen; beispielsweise beim Schiffsnamen.
Detailvergleich
Oben
Von 1928 bis 2004 stand der Name relativ klein, in einer Kartusche eingefasst, in der oberen Gillung über dem Ruderkopf (Auschnitt einer Abbildung vom September 2003).
Mitte
2004 bis 2015, elegant in großen Lettern (Auschnitt einer Abbildung vom August 2014).
Unten
Aktuell nach Kritik an der Verwendung eines nicht zeitgerechten Fonts (Auschnitt einer Abbildung vom April 2016).
Victory, Victory, Victory… und dabei die Hände über dem Kopf zusammenschlagen - Immer so weiter mit dieser Erbsenzählerei? Spannender wird es, wenn ich eine Komponente aus dem Spiel lasse.
Der »Nutzlose Anzeiger« vom 1. April 2022 erinnert uns in der Rubrik »Vermischtes zum Tage« ganz unten in der linken Spalte auf Seite 10 an ein trauriges Jubiläum.
Ende Legende
Aus dem Schlick des Medways vor dem Historic Dockyard von Chatham in der Grafschaft Kent wurde letzte Woche eine Kupferplatte geborgen. Mittels neuartigem Bestimmungsverfahren ließ sie sich eindeutig dem vor 100 Jahren in Portsmouth untergehangenen Flaggschiff des Hafenadmirals HMS Victory zuordnen. Die Platte muss sich aus dem Kupferbeschlag des Unterwasserschiffes gelöst haben, als die Victory zu Instandsetzungsarbeiten nach der Schlacht von Trafalgar auf der Reede von Chatham auf einen freien Platz im Trockendock wartete. Eingedenk der geschichtlichen Bedeutung des Fundes, soll die Reliquie neben einer Büste Lord Nelsons und einer alten Ankerwinde der Victory einen Ehrenplatz in der königlichen Sammlung erhalten. Michael Crick von Crick-Smith, einem Institut, dass sich auf Konservierung sowie Restaurierung historischer Gebäude und Artefakte spezialisiert hat und schon 2015 an der Winde Farbbestimmungen durchführte, bestätigt: „Kupfer von noch schlechterer Qualität als einst die Farbprobe - die Platte ist echt.“
Über die Neuauflage des erfolgreichen Satelliten-Paares »Tom und Jerry« zur Bestimmung von Unregelmäßigkeiten im Schwerefeld der Erde, in Kombination mit forensischen Techniken, gelang es bereits, den Bruchteil eines Fingerabdrucks zu bestimmen. Zu 90 Prozent ist der damalige Schiffbaumeister der Werft von Chatham, Robert Seppings, identifiziert.
Die Kupferplatte soll der Untersuchung zeitgenössischer Quellen einen frischen Forschungsimpuls geben, mit dem Ziel, anhand neu gewonnener Erkenntnisse, die Vorstellungen vom in Vergessenheit geratenen Schiff in anschauliche Bilder umzumünzen.
Leichter gesagt als getan. Vom Tasmanischen Tiger weiß man nicht nur, dass der Endling am 7. September 1936 gestorben ist, es gibt Fotos und Filmmaterial. Wie die Victory am 21. Oktober 1805 aussah, lässt sich keiner Fotografie entnehmen, Abbildungen der Trafalgar-Spezies finden sich allenfalls in der Malerei, wobei die Marinemalerei des frühen 19. Jahrhunderts in ihrer Grundausrichtung der Historienmalerei folgt, und »historisch« nach unserem Gusto ist die noch weniger als eine Stahlstich-Illustration in Brehms Tierleben ein Dokumentarfoto.
Wir haben also keine Wahl - mal sehen wie die Victory in Brehms Tierleben so aussieht.
In Googles Bildersuchergebnis zu »Trafalgar«, entscheide ich mich spontan für dieses Werk: French Ship Redoutable (1791)
Schiffe im Dreierpack. Eins von der Seite gesehen, zwei in Heckansicht. Der Zweidecker in der Mitte im Kampf mit größeren Schlachtschiffen; das rechts, mit seinen gelben Streifen, eindeutig ein Dreidecker, aber auch das Schiff linkerhand entpuppt sich als solcher, allerdings in seiner Bemalung anders gestaltet; ein etwas breiterer gelber Streifen hinterlegt die oberen beiden Batteriedecks, ansonsten schwarz bzw. dunkel.
Eine Trikolore weht von der Besangaffelnock des mittleren Schiffes. Beim auffälliger gestalteten Dreidecker ist der Kreuzmast nach achtern abgeknickt; die Kreuzmars-Plattform hängt über das Heckschild und der Gaffelbaum mit daran festgemachtem Besansegel gibt den Fingerzeig auf eine Flagge im Wasser: ein white Ensign. Wie zur Bestätigung hängt von der Bramsaling des beschädigten Großmastes ein zweites Exemplar; ja, das ist ein englisches Schiff. Der obere Teil des Großmastes fehlt, Groß- und Großmarssegel sind gesetzt und die Rahen durch ausgefahrene Leesegelspieren verlängert. Zusätzliche Segel, beiderseits des Großmarssegels und eins rechts neben dem Großsegel. Der Maler erklärt uns damit, dieses Schiff ging, den achterlichen Wind so gut als möglich nutzend, mit gesetzten Leesegeln in die Schlacht.
Das Bild findet man auf der englischen Wikipedia-Seite. Eingangs des Artikels gibt es noch eine Abbildung, bei der die Positionen der Schiffe und der Name des Malers genannt sind, hier heißt es: »The Redoutable (centre) fighting the Temeraire (left) and HMS Victory (right), by Louis-Philippe Crépin«.
Nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick, bei näherer Betrachtung wird man aber gewahr, eine der Abbildungen muss spiegelverkehrt sein.
Ein vergrößerter Bildausschnitt schafft Klarheit, der Schiffsname »Victory« ist gut zu lesen; die von mir zuerst beschriebene Abbildung ist eine eingescannte Buchseite aus »L'Empire des Mers« - das erklärt auch die Lichtreflexion am rechten Bildrand, und wie die Google-Bildersuche zu »Redoutable Crépin« zeigt, hat sich dieser fehlerhafte Scan im Internet verbreitet.
Die eigentliche Merkwürdigkeit; bei en.wikipedia.org sind beide Versionen im selben Artikel aufgeführt, die Positionsangabe der Schiffe aus der spiegelverkehrten Version ist aber auf den Thumbnail des spiegelrichtigen Bildes übertragen. Klickt man darauf, erscheint die hinterlegte Bilddatei, und siehe da - mit nunmehr korrigierter Beschreibung.
Zu sehen ist die Abbildung des Originals aus dem Musée national de la Marine in Paris, zu erkennen am blauen Schattenwurf des Rahmens am oberen Bildrand, und um Missverständnisse zu vermeiden: Victory (links), Redoutable (Mitte) und Temeraire (rechts) - 1807 vom französischen Marinemaler Louis-Philippe Crépin gemalt.
Der gefallene Mast und die ins Wasser hängende weiße Flagge erklären uns, auch ohne den Schiffsnamen gelesen zu haben, in Bildsprache, dass dieses Schiff die Victory sein muss - »Vice-Admiral of the White« Nelson ist, von einem Musketenschuss getroffen, auf dem Achterdeck seines Flaggschiffs niedergesunken.
Wie die stehengelassenen Leesegel andeuten, orientiert sich Crépin an einem überlieferten Schlachtbericht, wonach sich die englische Flotte der französisch-spanischen unter Vollzeug näherte. Trotz größtmöglicher Segelmasse, mehr als Schneckentempo erlaubten die Windbedingungen nicht. Über eine halbe Stunde standen die englischen Schiffe unter Beschuss, bevor sich die ersten in die Schlachtlinie des alliierten Flottenverbandes einschlichen.
Bei der Eroberung Algeriens 1830 begleitete Crépin die französischen Truppen…
Das Bild des Orients in der französischen Malerei: von Napoleons Ägypten-Feldzug bis zum Deutsch-Französischen Krieg, Angelika Leitzke, Tectum Verlag DE, 2001 - 411 Seiten, Seite 179
seine Schlacht von Trafalgar ist aber nicht aus Sicht eines Teilnehmers gemalt. Hintergrundinformationen zu seiner Inszenierung habe ich nicht, und mir ist auch nicht bekannt, ob er beim Malen von einem alliierten Sieg ausging, wie ihn französische Propaganda verbreitete, die gar eine absurde Szene entwarf, in welcher der französische Admiral Villeneuve seinem Gegenpart Nelson die tödliche Verwundung beibrachte.
»Le Redoutable à la bataille de Trafalgar« ist ein französischer Ansatz. Crépins Augenmerk gilt der Redoutable, bzw. ihrem Kommandanten Jean Jaques Etienne Lucas, der für seine Rolle in der Schlacht gleichermaßen Anerkennung von englischer und französischer Seite erntete und nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft von Napoleon zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt wurde.
Den Kampf gegen die Übermacht unterstreicht das (nun) von rechts ins Bild kommende Schiff, am Union Jack als Engländer zu identifizieren und im Layout der Temeraire gleichend. Auch wenn der größte Teil der Schlacht im Pulverqualm verborgen bleibt, bei der Dreiergruppe muss Crépin Farbe bekennen, und seine Entscheidungen sind in mancher Hinsicht interessant.
Die Temeraire und der namenlose Dreidecker, beides Linienschiffe zweiten Ranges, wirken relativ unauffällig, aber kein ungewöhnliches Erscheinungsbild. Im Grunde genommen entsprechen sie dem Farbschema, das ein französischer Maler in dieser Zeit für englische Kriegsschiffe anwenden konnte. Hingegen wirkt die Victory mit ihren drei gelben Streifen überraschend aktuell, offenbar hatte sich der Gestaltwandel des englischen Flaggschiffs herumgesprochen, allerdings nur in diesem besonders auffälligen Detail.
Die Fenster auf der Rückseite der Seitengalerien sind durch ein Säulenrelief abgeteilt, und gut sind die Balkons in den oberen beiden Reihen zu erkennen; einzelne Fenster sind in diesem verschatteten Raum kaum auszumachen, um so deutlicher aber in der balkonlosen unteren Partie. Inklusive der Rückfenster der Seitentaschen komme ich auf zehn. Damit ähnelt Crépins Spiegel-Darstellung eher einer Victory vor der Zeit ihrer Generalüberholung von 1800 bis 1803 - mit acht Fenstern hätte er richtig gelegen, und die vier Geschützpforten unter dem Spiegel passten gut dazu.
Zur Kennzeichnung der Victory nutzt er ein weiteres Detail - das Streifendekor der Untermasten. Ich denke, seine Information lautete: mit schwarzen Eisenbändern beschlagen.
Ich muss gestehen, meine Wahl fiel nicht ohne Hintergedanken auf den spiegelverkehrten Crépin, intuitiv sehe ich seine Victory in silbriger Abendstimmung inmitten einer Versammlung von Schiffen. Nelson´s Flagships at Anchor - wie die Ruhe vor dem Sturm.
Doch bei aller Gemeinsamkeit der Formsprache, für dieses Gemälde steht der Engländer Nicolas Pocock, führender Marinemaler seiner Zeit.
Auf der Victory wird ein Salutschuss abgefeuert und ermuntert zum Vergleich mit Seestücken Willem van de Veldes aus dem 17. Jahrhundert, und lässt man die akkurate Gegenstandsdarstellung auf sich wirken, nicht unberechtigt, wie ich finde.
Der Titel könnte auch Schiffe beim Segeltocknen in Spithead sein, dabei fehlte dann allerdings das fantastische Moment. Das Werk gehört zu einer Bilderserie, die Pocock zum Leben des Admirals malt, und »Nelson´s Flagships at Anchor« kann als Resümee verstanden werden, in dem sich Schiffe, die im Verlauf Nelsons Karriere unter seinem Kommando standen, bzw. als Flagschiff fungierten, versammeln.
Wesentliche Merkmale seiner Victory haben wir schon mit Crépin erfasst - natürlich, die Anzahl der Fenster pro Reihe ist bei Pocock korrekt… nein, ist sie nicht! Der Begriff »Generalüberholung« fiehl. Beide Bilder von 1807 ignorieren Merkmale baulicher Veränderung - woran liegt das?
Bei Crépin erstaunt das weniger; als französischer Maler gründet er seine Form auf Hörensagen, Pocock sollte aber an aktuellere Informationen herangekommen sein. Geschätzter Marinemaler und auch in Marinekreisen wegen seiner Sachkenntnis geachtet, hatte Nicholas Pocock doch vor seiner Maler-Karriere, auf Kauffahrtschiffen ausgebildet, sogar selbst das Kommando über ein Schiff inne.
Um beurteilen zu können, worin das Darstellungsdefizit besteht, ist es natürlich sinnvoll zu wissen, wovon bei der Generalüberholung, dem »Great Repair«, die Rede ist.
Besonders ein Ereignis im Jahr 1799 bereitete der Admiralität des vereinigten Königreiches Sorge. Die HMS Impregnable, ein 98er und besonders kampfkräftiges Linienschiff zweiten Ranges, war am 18. Oktober dieses Jahres bei den Untiefen vor Chichester auf Grund gelaufen, ohne dass Aussicht auf Rettung bestand; bei der Suche nach Ersatz, kommt die Victory ins Gespräch. Seit zwei Jahren stand sie im Abseits, zum vergessenen Dasein eines Gefangenenlazarettschiffes verurteilt; nach 30 Dienstjahren schienen ihre Tage gezählt. Was genau die Formulierung »strukturelle Schäden« bedeutet, ist mir nicht klar, allenthalben wiederholt, wird sie als Grund ihrer Suspendierung vom Dienst genannt.
Wegen einer zu erwartenden Mindestdauer von fünf bis sechs Jahren kam Neubau nicht infrage, die Alternative war die Reaktivierung eines ausgemusterten Schiffes, und bei der Entscheidung zum Recycling könnte auch der wirtschaftliche Gesichtspunkt ausschlaggebend gewesen sein. Für jedes Schiff fielen an die 30 Hektar Eichenwald. In einem Kriegsschiff mit 75 Kanonen wurden 3700 Eichen verbaut, und ein First Rate erforderte gar 5000 - darüberhinaus schritt die Entwaldung Englands aus flottenbautechnischen Gründen bereits seit dem 16. Jahrhundert voran.
John McKay erklärt in »The 100-gun ship VICTORY«, dass die im Februar 1800 beginnende Wiederinstandsetzung, zunächst als mittelschwere Reparatur eingestuft, sich schließlich zum »Big Refit« mauserte, im allgemeinen und im folgenden »Great Repair« genannt.
The 100-Gun Ship Victory (Anatomy of the Ship) von John McKay, 1987 Conway Maritime Press, Seite 12
Angefangen bei Standard-Inspektionen war das die höchste Stufe an Reparaturleistungen einer Werft. Bis April 1803 dauerte der Umbau, der Gestaltwandel war deutlich.
Eine einfache Aneinanderreihung der Begriffe bei McKay gibt einen ersten Eindruck: Rumpf, Struktur, Heck geschlossen, Rüsten höher gesetzt, Schanzkleider, Geschützpforten und Pfortendeckel, Masten, Rahen und Takelage, Ankerkabel, kleinere Reparaturen, Schottwände, neue Galionsfigur, Innenanstrich, Boote, Geschütze.
Komme ich mit McKays »strukture« in der Übersetzung als »Rahmenwerk« vielleicht doch noch auf die richtige Fährte der strukturellen Schäden? Ich käme über »frames« auf Spanten; das hieße dann, nicht nur Fleisch und Federn, auch am Knochengerüst wurde gesägt.
In mundgerechte Portionen einer Mouse-Over-Grafik zerlegt, werden bei hms-victory.com die wesentlichen Umbaumaßnahmen anschaulich. Für eine grobe Einschätzung des Aktualitätsgrades nach 1803 entstandener Bilder, lässt sich eine Checkliste aus den Informationen extrahieren. Innenraumumgestaltung und Angaben zur Schiffsartillerie sind ausgeblendet, berücksichtigt sind im wesentlichen Dinge, die sich als äußerliche Veränderungen bemerkbar machen - und eventuell in Bildern auffallen (Genaueres ausführlichst bei Dafi nachzuschlagen).
Untermasten, aus mehreren Teilen in Kompositmethode kombiniert und durch Eisenbänder zusammengehalten, ersetzen die alten aus einem einzelnen Baumstamm gefertigten.
Schanzkleider zum Schutz gegen Beschuss durch Waffen kleineren Kalibers (bei www.hms-victory.com sind damit Schanzkleider um das Hüttendeck gemeint).
Die Victory erhielt ihren Anstrich mit den senfgelben und schwarzen Streifen. Die Geschützpfortendeckel wurden später schwarz bemalt, wodurch das berühmte, Nelson Chequer genannte, Schachbrettmuster entsteht - zur Farbgestaltung gibt es Einwände, auf die ich zu gegebener Zeit ausführlicher eingehe.
Die offenen Heckgalerien (Balkons) wurden entfernt, zugunsten eines glatten geschlossenen Spiegels mit Glasfenstern - und hölzernen Fensterläden zum Schutz gegen schwere See.
Zwei Geschützpforten unter dem Spiegel wurden entfernt.
Um das Schussfeld möglichst von Takelage freizuhalten, wurden die Rüsten auf Höhe des Oberdecks verlegt.
Das untere Batteriedeck wurde vorn um zwei Geschützpforten ergänzt.
Das große und aufwändig gestaltete Schnitzwerk der Galionsfigur war verrottet und wurde durch eine kleinere Figur ersetzt.
Alles in Allem sind die genannten äußerlichen Veränderungen die Grundkomponenten des Trafalgar-Looks.
Beim Anwendungstest bestätigen sich in den beiden vorgestellten Gemälden die Andeutungen zum überholten Erscheinungsbild. Zwar steht hier vor allem das Heck in der Beurteilung, doch zeigt bereits die Bauform mit den Balkons und den vier Geschützpforten darunter, dass diese Details nicht den aktuellen Wissenstand nach dem »Great Repair« widerspiegeln.
Einige Übereinstimmung gibt es bei den Streifen entlang der Pfortengänge und der Position der Rüsten; dazu sei bemerkt, die Lage der Kreuzrüsten musste nicht verändert werden, nur Groß- und Fockrüsten wanderten eine Etage höher.
Dieses Verlegen der Rüsten war keine rein englische Angelegenheit, lesen wir aus Crépins Darstellung, offensichtlich haben wir es mit einem allgemeinen Fortschritt im Schiffsbau zu tun. Durch die Verlagerung der Rüsten gewannen die Konsrtukteure Unabhängigkeit in der Rumpfform, denn tiefliegende Rüsten machen eine bauchige Form mit einfallenden Bordwänden notwendig, um die Wanten reibungslos von den Rüstbrettern bis unter die Marsplattform zu führen; wobei dieser Modernisierungstrend in der Rumpform sicherlich mehr Einfluss auf Neubauten als auf einen Refit hatte. Hier dürfte die entscheidendere Veränderung die Befreiung des Schussfeldes gewesen sein, und etwas, mit dem auch die Verkleinerung der Galionsfigur begründet wurde. Besonders fürs Tauwerk bot mehr Abstand zur See Schutz vor der schädlichen Wirkung des Spritzwassers.
Die Kompositbauweise der Masten führt nach oben hin zu einer leichten Formverdickung. Davon ist in beiden Bildern nichts zu spüren. Und sollte bei Crépin eine Interpretation der schwarzen Streifen als Eisenringe zutreffen, ist das zwar prizipiell richtig, deutet aber auf einen Mangel an Insider-Wissen hin, welches über den »Great Repair« hinausgeht.
Aber lassen wir mal Crépin in Ruhe, beschäftigen wir uns lieber mit der Frage, weshalb Pocock, dem mehrere Informationsquellen offenstanden, keinen Gebrauch davon macht.
Der Maler sitzt zu Hause in seiner Wohnung in Westminster und erwartet den Postboten. Sein Kontaktmann in der Admiralität ist seiner Bitte nachgekommen, ihm einen Bauplan der Victory zu senden. Bedauerlicher Weise, so lässt er Pocock wissen, hat er nur eine Kopie des Plans von 1765 anzubieten - Egal, mach was draus!
Es ist nicht nur die Wasserlinie, die völlig unperspektivisch gleichzeitig Horizontlinie ist. Kein Hinweis auf die Generalüberholung, und ich meine, außer fehlenden Geschützpforten, niedrigen Rüsten und Balkons, sogar die alte Galionsfigur zu sehen. Ich war hier schon ausführlich und will nicht Alles wiederholen - im Grunde genommen fehlt nur die Andeutung des Unterwasserschiffes, so wie in einem anderen Bild-Beispiel, um sich bei der Skizze auf ein einem Bauplan entsprungenes Abbild festzulegen. Die Zeichnung nach Bauplan, das ist Pococks Urbild der Victory; es ist alt, unveränderlich, und alle Bilder seiner Nelson-Retrospektive orientieren sich daran.
So sehr ich die gefundene Kupferplatte fixiere, um das Schiff in Portsmouth auszublenden, es wird nicht gelingen, und gerade im Zusammenhang mit meiner letzten Feststellung gibt es Unterhaltsames.
Dailymail.co.uk verkündet am 7. Oktober 2015 reißerisch: »Lettering on Admiral Lord Nelson's famous flagship is changed back to its original font after being wrongly labelled for decades«.
Dass die Schriftart des Namenszuges (der mittlere von Victory, Victory, Victory) nicht in die Zeit passte, leuchtet ein. Schriftexperte Professor James Mosley von der Reading Universität stellte den Font »New Roman« in Frage, weil diese Schrift erst 1934 für den Zeitungsdruck der Times geschaffen wurde - in der Zeit um 1805 sei die Schrift »fatface« gebräuchlich gewesen - und verweist dabei auf Pocock, dem er als »guten Kenner des Schiffes« vertraut - so wurde aus dem zweiten Victory das dritte.
Weshalb sich Professor Mosleys Einschätzung Pococks durchsetzte, ist mir nicht klar; etwas, vielleicht Entscheidendes, dass es bei der direkten Ableitung aus dem Bild zu berücksichtigen gilt, bleibt unerwähnt. Für Pocock wie auch Crépin ist der Schiffsname Bildmittel. Hinweisfunktion hat er bei beiden, bei Pocock sogar besonders deutlich. In großen Lettern verkündet er in Nelsons versammeltem Lebenswerk den krönenden Sieg - und was könnte diesen geschriebenen Sieg bildlich besser zur Geltung bringen als das prunkvolle Heck der früheren Victory.
Schauen wir genau hin, gibt es in diesem Bild noch ein Schiff in Heckansicht. Müsste da nicht breit und »fat« E L E P H A N T in der oberen Gillung stehen? Insofern könnte dieses Bild auch die Diskussion befeuern, ob überhaupt ein Namensschild am Heck der Victory angebracht war, und der Name in diesem Bild nicht anders als eine Sprechblase zu bewerten ist.
Beim bisher Gezeigten ist die Victory vornehmlich als Illustrationsgegenstand in Erscheinung getreten, sei es, um den dramatischen Höhepunkt der Schlacht grell in Szene zu setzen, oder um Stationen in der Vita Nelsons erzählerisch zu begleiten. Ohne zusätzlichen Filter wird uns die fortgesetzte Suche höchstens mit gleichartigen Bildern faszinieren, dem wirklichen Schiff kommen wir damit nicht näher. Erst wenn bewiesen ist, dass der Maler die Victory wirklich gesehen hat, bekommt seine Bildaussage Gewicht.
Eine Seeschlacht, doch kein Name, keine Flagge weist den Betrachter darauf hin, wie er die dargestellten Schiffe einzuordnen hat. War bei Pocock und Crépin eine Bildgeschichte zu erzählen, läßt uns John Constable distanziert und kommentarlos einen Blick auf die Welt der Gegenstände werfen.
Dem Beschädigungsgrad der Schiffe nach ist die Schlacht schon eine Weile im Gange. Eine riesige Qualmwolke verriegelt langsam den Blick in die Ferne, drei Schiffe vor dieser Welt aus Watte, die zwei rechts, etwas abseits, werden schon von der Wolkenwand angegangen und verschwinden wohl alsbald darin. Genau genommen sind es ebenfalls drei, ein Stückchen Schiff klebt noch ganz rechts am Bildrand. Sie wirken etwas modellhaft im Vergleich zur zusammengemixten Form auf der linken Seite, die sich nur mit Mühe in drei Einzelrümpfe entflechten lässt. In der Bildmitte ist ein Mast aufgerichtet. Alle Segel bis hin zu den Royals sichtbar. Ein zerbrechliches Monument, das im nächsten Moment genauso zerstört werden kann, wie die übrigen Masten, von denen ich vier zähle; beim vordersten Schiff steht nur noch der Stumpf des Großmastes. Ansonsten sind die Untermasten soweit erhalten, dass man die geschwärzten Masttopps mit den Marsplattformen erkennt. Die schwarzen Rechteckformen am oberen Ende stellen Eselshäupter dar. Eine merkwürdige Detailtreue kommt ins Spiel und richtet unsere Aufmerksamkeit auf die mageren Reste verbliebener Takelage. Sieht richtig aus, wie das Großstag samt Borgstag rechts am Fockmast vorbei zum Bug reicht.
Auffällig und sonderbar in diesem Zusammenhang sind die vom Heck emporragenden blanken Flaggenstöcke; bei Segelmanövern störend, sollten die während der Schlacht weggepackt sein. Das behalte ich im Auge und ebenso, dass am intakten Bugspriet des auffälligsten Schiffes kein Stampfstock am Ende des Sprietbaums zu sehen ist.
»His Majesty's Ship "Victory", Capt. E. Harvey, in the Memorable Battle of Trafalgar between two French Ships of the Line«.
Aha, die Victory von zwei französischen Linienschiffen eingeklemmt.
Das Schiff ganz rechts im Bild, soll das die spanische Santissima Trinidad sein? Mit 140 Geschützen damals das größte Kriegsschiff der Welt - schon im Moment der Frage wird mir klar, die Schweigsamkeit des Bildes provoziert, auf der anonymen Oberfläche findet angelesenes Wissen keinen Halt; außer dem Namen »Victory« im Bildtitel, lässt Constable keine Gewissheit zu.
Die Palette ist reduziert, keine Spur von gestreiften Bordwänden. Im Gegenteil, überwiegend das Schema »Buff and Black« vergangener Tage, welches wir von Crépins Temeraire kennen.
Gewissheit? Eliab Harvey, war bei der Schlacht von Trafalgar Kommandant der Temeraire. Man muss Robin Brooks zustimmen, der Gallionsfigur des als Victory ins Bild gestellten Schiffes zu misstrauen. Ein schneckenförmiges Gebilde, ein Krull-Galion, Charakteristikum der Temeraire. Eines ist aber richtig an diesem Schiff: die Geschützpforte vorn im unteren Batteriedeck.
Die Strategie Admiral Nelsons, die Schlachtlinie des zahlenmäßig überlegenen Gegners an zwei Punkten zu durchbrechen, um eine überschaubare Anzahl von Schiffen in Einzelkämpfe zu verwickeln, scheint aus diesem Bild zu sprechen.
Die Schwierigkeiten, in Constables Bild, Schiffe zu identifizieren, bilden das zentrale Problem im Nahkampf ab. Um der Gefahr des »Friendly Fires« zu entgehen, hatte Nelson Erkennungssignale angewiesen. Constables undurchdringliche Mauer aus Qualm überzeugt, doch weiß er offensichtlich nichts vom ockerfarbenen Anstrich der Untermasten, der die schwarzen Eisenringe verbergen soll - um auch die Informationslücke Crépins zu füllen - und sollte das zentrale Schiff wirklich ein englisches sein, müsste ein Union-Jack vom Vorbramstengestag des verbliebenen Fockmastes wehen.
Worin bei dieser Gouache die Mitwirkung des Seemanns aus Sussex, der angeblich auf der Victory an der Schlacht teilnahm, bestand, ist unklar, seine Geschichten scheinen Constable verwirrt zu haben; ziemlich stark sogar, bedenkt man den falsch genannten Kommandanten im Bildtitel.
Constable ist kein Marinemaler, Schlachten- und Historienbilder gehören nicht in sein Repertoire. Und dieses Bild ist sein einziger für die Öffentlichkeit bestimmter Beitrag zu diesem Themenkreis, gehört aber nicht wirklich dazu, denn Constable bringt das Historienhafte zum Schweigen; sein Faible für Naturbeobachtung und Landschaft spricht hier.
1806 gemalt, zu einer Zeit, als neben der siegreichen Schlacht die Trauer um den Verlust Nelsons das Publikum bewegte, aber der kommt bei ihm nicht vor, nicht mal im Bildtitel. Im Vergleich zum erzählfreudigen Crépin, weiht er uns in die Geheimnisse eines Naturereignisses ein. Er betrachtet Alles mit Landschaftsblick aus der Distanz.
Woran mag es liegen, dass seine Darstellung der Schlacht unsere Erwartungen so enttäuscht? Kurze Antwort: wir sehen nur Tasmanische Tiger - die ausführliche ist in Arbeit.
»Constable didn't do glamour«. Richard Dorment stellt sich die Frage, weshalb Constable in der zeitgenössischen Who-is-Who-Sammlung Lord Egremonts, des damaligen Herren von Petworth, in keiner Form vertreten ist, obwohl die Sammlung weit unbedeutendere Maler als Constable enthält, und Lord Egremont mit ihm ein durchaus freundschaftliches Verhältnis pflegte. Dorments Schlussfolgerung: Constable war uninteressant für die romantisch veranlagte Zeit - „Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie sich Lord Egremont kopfkratzend die Frage stellt, wie in aller Welt sich jemand am Bild einer alten Mühle ergötzen könne oder an der abgeranzten Hütte die Straße runter”.
„Da muss ich was draus machen!” kommt Constable in den Sinn; schleunigst kramt er seine Skizzen vom drei Jahre zurückliegenden Abstecher nach Chatham hervor und macht sich ans Werk.
Die schwarzen Eisenbänder um die Masten. Der einsame Flaggenstock. Der fehlende Stampfstock. Und der Seemann aus Sussex stellt nicht mal eine Frage zum fehlenden Bumblebee-Layout.
Im Frühling 1803 bot Kapitän Torin, ein Freund seines Vaters, Constable an, ihn auf dem Ostindienfahrer Coutts ein Stück des Weges, von London die Themse abwärts bis Deal, zu begleiten; bis dorthin, wo die Nordsee in den Ärmelkanal übergeht. Einen Monat war Constable unterwegs, machte Landschaftsstudien und versuchte die Gelegenheit zu nutzen, seinen Kopf von akademischen Klischees und Vorbildern frei zu bekommen - das sieht zumindest Nicholas Tracy als Hauptmotiv seiner einmonatigen Reise.
Britannia’s Palette: The Arts of Naval Victory, 1944, von Nicholas Tracy - Seite 189
Die Coutts fuhr die Themse hinunter bis Gravesend, machte dort Zwischenstation, und Constable verließ das Schiff, um einen Tagesausflug zu machen. Elf Kilometer bis Rochester und dann rüber nach Chatham, wo er ein Boot mietete, weil er neugierig auf die vielen Kriegsschiffe war, die seinem Brief nach dort ankerten.
In diesem Brief vom 23. Mai 1803 schreibt er seinem Freund Dunthorne: „I sketched the Victory in three views. She was the flower of the flock, a three-decker of some say 112 guns. She looked very beautiful, fresh out of dock and newly painted. When I saw her they were bending the sails; which circumstance, added to a very fine evening, made a charming effect.”
Life and letters of John Constable, R.A. von Charles Robert Leslie - 1896, Page 18 Chapter 1
Also, drei Ansichten des soeben ausgedockten Schiffes, die Farbe noch frisch und die Mannschaft beim Segelanschlagen - gelungener Abend.
Der Great Repair dauerte bis April, passt also gut, doch geht die Geschichte noch weiter: Er packt in Chatham sein Bündel Zeichnungen zusammen, kurzer Zwischenstopp nochmals in Rochester, um die Kathedrale in einer Skizze abzuspeichern, und dann die elf Kilometer retour nach Gravesend an Bord der Coutts. Weiter die Themse flussabwärts. Kurz vor Deal müssen sie wegen schlechten Wetters umdrehen und verbringen drei Tage im Schutz der Küste von North Foreland. Noch äußert sich Constable begeistert über interessante Wolkenformationen, die er aufmerksam skizziert, doch mit der Ausschiffung in Deal ist nichts mehr von seiner guten Laune übrig. Am Boden zerstört berichtet er seinem Freund, dass er in der Hektik des Aufbruchs die Mappe mit der gesamten Ausbeute der Reise liegen lässt und mitansehen muss, wie sich seine Zeichnungen in Richtung China verabschieden.
Hier hätte ich Leslie weiterlesen müssen. Davon überzeugt, Constable habe die Victory-Zeichnungen nicht mehr zu Gesicht bekommen, empfand ich die Nachricht »Expert finds Constable's lost drawings of Victory« geradezu sensationell.
Merkwürdigerweise hieß es am Ende des Artikels vom Dezember 2002 bei telegraph.co.uk: ”To the astonishment of the owners, who are descendend from Constable but had no idea that the drawings were worth much”… Also wirklich, die verschollenen Zeichnungen liegen plötzlich bei Constables unwissenden Nachfahren in der Schublade. Hexerei? Natürlich nicht. Leslie erwähnt nämlich, dass man auf der Coutts Constables Dilemma durchaus wahrgenommen hatte und ihm die Zeichnungen umgehend, noch vor Verlassen des Ärmelkanals, nach London sandte; als er die Gouache pinselte, waren die Victory-Zeichnungen also in seinem Besitz.
Doch bevor ich auf diese Zeichnungen eingehe, ein paar Anmerkungen zu Constables Zeichenstil, angeregt durch eine Fußnote Leslies, in der er schildert, wie ihm als Junge von Constable die Grundlagen zum Zeichnen eines Schiffes erklärt werden: „Denke immer daran, zeichne es zuerst als schwimmende Tonne oder Fass - auf dieser Basis baust du dein Schiff auf mit Masten und Rigg”.
Life and letters of John Constable, R.A. von Charles Robert Leslie - 1896, Page 20 Chapter 1
Vielleicht hätte er noch hinzufügen sollen: „Nimm einen weichen Bleistift”, denn mit unterschiedlichem Druck des Stiftes bringt Constable malerisch in wenigen Linien zwei Segelschiffe zu Papier. Besan- und Kreuzmarssegel durch leichte Schraffur abgedunkelt, die Masttopps mit Druck markiert, ansonsten bleibt es dem Betrachter überlassen, die Schiffsform zu ergänzen.
Mit Verwischen zart aufgetragener Tusche, ist er schnell bei einem überzeugendem Bildergebnis. Den Effekt des abgedunkelten Kreuzmastes im Kontrast zum freigelassenen Papiergrund wiederholt er bei den übrigen Segeln. Ebenso schnell wird mit einem Pinselstrich das Wasser in Hell-Dunkel gestaffelt. Hellerer Ton für den Himmel, und fertig ist der Raum.
Ist Constables Panoramablick, vereint mit weichem Bleistift, dazu geeignet, detailliert einen ganz bestimmten Gegenstand abzubilden?
Da er ja ausdrücklich das Segelanschlagen erwähnt, dachte ich, es sei möglich, die Zeichnungen nach Fortschrittsstufen zu ordnen, doch gelingt es mir nicht eine widerspruchslose Reihenfolge zu finden. Also setze ich mich still mit ins Boot und halte Ausschau.
Mit der Bild-Freigabe klappt es leider nicht, stellvertretend ein wenig Pop Art
Mein erster Blick: Bugspriet, Blindenrah und Klüverbaum. Ein schwarzer Druckpunkt am Ende des Sprietbaums wird zum Eselshaupt. Wo ist der Stampfstock? Nicht da. Den Flaggenstock ohne Flagge sehe ich auch sofort. Constables Kürzel für die Galionsfigur überrascht. Mit Sicherheit ist das kein Krull-Galion. Das Großmarssegel wird gerade angeschlagen, Punkte bei der Arbeit. Ein paar Ameisen krabbeln die Wanten hoch. Das Vormarssegel ist bereits dran und geborgen. Keine Bramrahen. Sind offensichtlich noch nicht aufgebracht. Außer dem langen Stander am Großtopp keine Beflaggung.
Drei Batteriedecks mit geöffneten Pforten, Geschütze sind nicht ausgerannt. Zart angedeutete Galionsregeln und -spanten, die unteren Schleuknie wie der Mund in einem hochnäsigen Gesicht. Galionssimse und Ankerklüsen sind Opfer der Materialunschärfe und vom Betrachter zu ergänzen.
Noch zartere Linien deuten etwas an, das man als farbig abgesetzte Streifen interpretieren könnte? Nein, zu vage. Constable bemüht sich zwar Formen zu umreißen, ohne in seine malerische Hell-Dunkel-Technik zu verfallen, doch die dicken Punkte für die Blöcke der Brassen an den Rahnocken wirken störend unproportional, wenn man bedenkt wie klein die Menschen stellvertretenden Punkte sind.
Die Eisenringe um die Masten sind mit leichtem Druck notiert. Ob das Kompositbauweise bei den Masten ist? Blöde Frage, solche Feinheiten schluckt die Bleistifttechnik, doch eine andere Frage drängt sich beim Stichwort Feinheiten auf: Hatte Constable überhaupt Zeit gehabt, derart ins Detail zu gehen? Immerhin hat er es geschafft, das Schiff unverzerrt aufs Papier zu bringen, und das ist keine Selbstverständlichkeit, wie wir noch sehen werden. Er schreibt, er habe in Chatham eine Bootsfahrt gemietet, also ist er nicht mit einer Touristengruppe unterwegs und kann vielleicht als Fahrgast selbst entscheiden, wo anzuhalten ist.
Eine Sache, die in seinem Wasserfarbbild zu beobachten ist, reiche ich in diesem Zusammenhang nach. Wenn man in der Dreiergruppe Bug und Heck der Schiffe vergleicht, wirken sie verzerrt in Mischung einer Seitensicht mit einem Blickpunkt weiter von vorn. Beim Zeichnen ist das Schiff offensichtlich nicht vor dem Anker geschwojt, hat sich Constable beim Malen bewegt? Apropos Anker, backbord hängt einer am Kranbalken.
Das vollbemannte Boot hat er etwas lieblos mit starkem Druck hinzugefügt, und schlecht positioniert - und vermutlich sind es zwei Boote in einer Form vereint. Sie passen nicht so recht zur Wasserlinie, die in ihrer nervösen Kräuselung nicht maßstabsgerecht wirkt. Constables Schiff ist klein. Und je länger ich diese Victory betrachte, desto aufdringlicher assoziiere ich: Gummiente - also lieber schnell weiter.
Oh jeh, ich bemühe mich, sachlich zu bleiben, aber Cucumber- statt Bumblebee-Look. Masten wie Spinnenbeine… Mal ehrlich, »the flower of the flock« bringe ich bei aller Liebe nicht mit diesem Ding zusammen.
Flaggenstock ohne Flagge: vorhanden.
Stampfstock: nicht vorhanden.
Erstmals zu sehen: Laternen am Heck.
Vormarssegel und Fock werden angeschlagen, ansonsten keine Segel, und auch die Kreuzmarsrahe fehlt. Die Kombination Stag Borgstag ist deutlich, genauso wie das einfache Kreuzstag.
Was ich in der vorigen Zeichnung anzumerken vergaß und hier bestätigt sehe, keine Andeutung einer Admiralspforte im gleichförmigen Punkteraster. Die obere Reihe irritiert allerdings, hier müssten einige Punkte stellvertretende Funktion für Anderes als Geschützpforten haben.
Auffällig die beiden Linien entlang der Bordwand, plastisch gesehen überzeugend gurkig. Constables Zeichenstil erweist sich als ungeeignet, Details hervorzuheben; der Anker wirkt unbeholfen grobschlächtig, und viele Linien sind so stark überzeichnet, dass die Form aufweicht. Auf das Wasserfarbbild übertragen, scheint der Mariners Walk zwischen Back und Bugspriet eine Fehlinterpretation als Umrisslinie zu sein, denn der dargestellte Bereich wirkt dort wie eine geschlossene Fläche.
Wir sind weitergerudert. Etwas näher dran, sehen wir die Victory von backbord achtern. Zwar ist der Anker wieder sehr grob und scheint mir darüberhinaus arg groß, aber er hängt am Kranbalken wie in den beiden vorangegangenen Zeichnungen - vielleicht hat Constable zwischenzeitlich den Bleistift gespitzt oder diese Ansicht zuerst skizziert, aber kein Zweifel, diese Zeichnungen gehören trotz stilistischer Abweichungen zusammen. Ebenfalls bildübergreifend bestätigt, der Flaggenstock. Die Kreuzmarsrahe ist am Mast und die Mannschaft damit beschäftigt, Kreuz- und Großmarssegel anzuschlagen. Was in der Seitensicht vollkommen unterging, sind die Rüsten; hier, der beschriebenen Maßnahme des "Great Repair" gemäß, in Höhe des Oberdecks.
Und wieder die beiden irritierenden Linien, wobei die obere die großflächig schraffierte Form im Hintergrund der Rüsten begrenzt. Ob Finknetz oder Schanzkleid, die Form entlang des Hüttendecks ist in die Schraffur einbezogen. Der geschwungene Linienverlauf lässt auf den ersten Blick Barkhözer vermuten, nur gäbe es davon mehr als bloß diese zwei. Und etwas Anderes außer den Pforten im Schanzkleid von Back und Achterdeck ist da noch angedeutet - ich denke an die Punktmarkierungen in der Seitenansicht - aber was das sein könnte… dazu sind Constables Andeutungen zu vage.
Besonders der ungenutzte Flaggenstock macht klar, das Constable 1806 seine drei Jahre zuvor gezeichnete Victory im Detail zurückverfolgt. Er macht sogar ein Schema daraus; alle Schiffe haben einen. Aus einer friedlichen Abendstimmung mitgenommen, ist der in einer Schlacht zwar fehl am Platz, aber Constable nimmt ihn mit, genauso wie den unvollständigen Bugspriet.
Ignorieren kann man die prononcierten Linien entlang der Bordwand nicht. In der Seitenansicht zu vermuten, in der Wiederholung deutlich. Auch wenn die letzte Gewissheit fehlt, es kann sich eigentlich nur um Farbbegrenzungen handeln - ein breiter heller Streifen auf Schwarz.
Wenn der Seemann aus Suffolk (nicht Sussex, wie ich irrtümlich schrieb - also ein Seemann aus Constables Heimatort) dieses Bild jemals zu Gesicht bekam, hätte er Einwände haben und fragen müssen, weshalb sich Constable für diese Farbgebung entschieden hat. „Weil das Schiff in Chatham so aussah” - ist diese Antwort möglich?
Seine Gouache entsteht 1806 frühzeitig, und wie ich vermute, unbeeinflusst von Ansichten anderer Maler, ganz aus dem Wissen um einen Tag im Frühjahr 1803. Dass er keinem gefestigten Schlachtschema folgt und die Victory mit zwei anonymen Schiffen umgibt, passt irgendwie - jeder Pinselstrich spricht für einen Alleingang Constables. Sollte der Seemann aus Suffolk allein aus Alibi-Gründen in der Bildentstehungsgeschichte erwähnt sein, das Bild bestätigte es.
Ich wüsste gern, welchen Tag »fresh out of dock« meint. William James Lloyd Wharton nennt den 9. April als Tag, an dem sie offiziell wieder ihren Dienst antrat.
ZitatThe peace concluded between England and France in 1802 was not of long duration, for on April 29th, 1803, war was again declared; this had been foreseen, and early in the month, great preparations were made in all the dockyards. Lord Nelson was appointed Commander-in-Chief in the Mediterranean, and selected the “Victory” as his flagship. She was commissioned at Chatham, on April 9th, and on 16th May arrived at Spithead. Nelson was waiting for her, but could not get away for a few days; and such was his impatience to sail, that in answer to everyone who spoke to him on the 19th of his departure, he said, “I cannot sail till to-morrow, and that’s an age.”
The Project Gutenberg EBook of A Short History of H.M.S. Victory, by William James Lloyd Wharton - Seite 31
Stelle ich das mal in einen geschichtlichen Rahmen, drängt die Zeit bereits, denn Napoleon, der sich von den vertraglichen Vereinbarungen des Friedens von Amiens unbeeindruckt zeigt, hat im Schatten des Friedens sein großangelegtes Rüstungsprogramm schon weit vorangetrieben. Mit Sicherheit ist Constable einige Tage vor dem 16. Mai 1803 in Chatham, denn an diesem Tag, als England Frankreich den Krieg erklärt, trifft die Victory in Portsmouth, bzw. im Spithead, ein. Damit ist der weitgehend windgeschützte, südöstlich von Portsmouth gelegene, Teil der Meerenge (Solent) gemeint, welche die Isle of Wight von der Küste Hampshires trennt. Zwei Tage später, als es zu Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England kommt, wird die Flagge des Oberbefehlshabers der Mittelmeerflotte auf der Victory gesetzt, am 20. Mai geht Admiral Nelson an Bord, und noch am selben Tag läuft die Flotte aus.
Etwas irritiert hat mich Wharton in diesem Zusammenhang mit seiner Bemerkung, die Victory habe schon im Früjahr 1801 das Dock verlassen, doch für einen geplanten Ostseeeinsatz nicht bereit, sei sie infolge zwei weitere Jahre in Chatham verblieben.
ZitatWorn out, and unfit for further active service, the poor old “Victory” was here degraded to the office of prison hospital ship, which she filled for two years, when, unwilling that such a favourite and fast sailing ship should be lost to the country, the Admiralty directed her to be thoroughly repaired. This took a year, and in the spring of 1801 she came out of dock almost a new ship, but she was not ready for service in the Baltic campaign of that date, and had rest at Chatham for still two years.
The Project Gutenberg EBook of A Short History of H.M.S. Victory, by William James Lloyd Wharton - Seite 30
Andernseits erwähnte ich ja, dass sich aus dem ursprünglichen Instandsetzungsvorhaben ein großes Umbau- und Modernisierungsprogramm entwickelte. Die Victory lag garantiert nicht nach Instandsetzung zwei Jahre lang bloß auf Halde; immerhin stiegen die erwarteten Kosten aufs Dreifache - und »fresh out of dock« schreibt Constable. Sein Aufenthalt ist im Frühling 1803 einzuordnen, und mit Gewissheit war er einen Monat unterwegs. Wie lange es dauerte, bis die Coutts tatsächlich England verließ, ist mir nicht bekannt, auch nicht wieviele Tage nach dem Briefdatum die vergessene Mappe Constable erreichte, aber hat das, was er malt und zeichnet, nicht ausreichend Beweiskraft?
Die in Form der Gouache nachgereichte Farblegende bezeugt, dass er die Victory noch ohne den markanten Anstrich in Chatham erlebt - verunsichernd klingt »newly painted« dennoch. Entspricht sein »The flower of the flock« wirklich unserer Vorstellung? Er sieht in Chatham eine Blume, keine Biene.
Zitatthe description went on to say that 'one of the most impressive sights must have been HMS Victory, fresh from a three year refit, resplendent in a new black and yellow livery boasting a new figurehead and flying at her main topmast a commissioning pennant'
Constable erwähnt nirgends »black and yellow«…
Brooks interpretiert Constables Beschreibung in der gängigen Annahme, der Bumblebee-Look sei als fester Bestandteil des »Great Repair« zu betrachten. Brian Lavery schreibt das Streifen-Muster Nelsons Initiative zu.
Nelson's Victory: 250 Years of War and Peace von Brian Lavery, EAN: 9781612518671, U S NAVAL INST PR, April 2015 - Seite 128
Es gibt keinen Grund Constable zu unterstellen, die Zeichnungen und das resultierende Wasserfarb-Bild seien bloße Erfindungen oder grobe Verfälschungen, dennoch erscheinen sie widersprüchlich - das änderte sich, sobald man das Bumblebee-Farbschema aus dem Maßnahmen-Katalog des »Great Repair« striche.
Soll heißen: Constabel sieht die Victory nach dem »Great Repair« in frischem Werftanstrich, der ist aber nicht schwarz-gelb gestreift; zur Bumblebee wird das Schiff (irgendwann) nach seinem Chatham-Besuch auf Nelsons Initiative hin.
Ich behaupte also keinesfalls, die Victory habe bei der Schlacht von Trafalgar kein Streifengewand getragen.